Kathedralen, Vatermord und Geschichten ohne Ich

Als Kind war Thomas Harlan, Sohn von „Jud Süß“-Regisseur Veit Harlan, zu Gast bei Hitler. Nach dem Krieg schreibt und dreht er, klagt Kriegsverbrecher an, zündet Kinos an, die Filme seines Vaters zeigen. Am Mittwoch ist nun in Hamburg zum ersten Mal Christoph Hübners und Gabriela Voss’ „Anti-Biographie“ „Thomas Harlan – Wandersplitter“ zu sehen

Ein Wandersplitter ist etwas, das durch eine Verletzung in den Körper gerät. Er ist schwer zu lokalisieren, latent schmerzhaft und bewegt sich zielsicher auf das Herz zu. Tritt der stets ungewisse Fall seiner Ankunft ein, wirkt er tödlich. Das Bild stammt von Thomas Harlan – Autor, Regisseur, Nazijäger, Revolutionär und Sohn des „Jud Süß“-Regisseurs Veit Harlan –, den wir in Christoph Hübners und Gabriela Voss’ „Anti-Biographie“ „Thomas Harlan – Wandersplitter“ sagen hören, sein Leben sei „reich an Unfällen, die ich sehr selten provoziert, meistens aber akzeptiert habe“.

Seit 2001 lebt er in einem Zimmer eines Lungensanatoriums in Süddeutschland – mit Blick auf den Obersalzberg. „Hitler hätte mich hier sehen können“, sagt der 1929 als Sohn von dessen Lieblingsregisseur und der Schauspielerin Hilde Körber Geborene. Und schlägt so den Bogen zur eigenen Geschichte. 1941 wurde er, der über seine Eltern Bekanntschaft mit Hitler und Goebbels machte, 1937 gar einen ganzen Nachmittag beim „Führer“ verbrachte, als Elfjähriger zum Führer der Marine-Hitlerjugend. Heute spricht Harlan über Hitlers „einmalige Qualitätsleistung eines Verbrechers“, der aus einem Volk eine Bande gemacht habe: „Als Kind gehörte ich zu der Bande dazu. Das ist ja logisch.“

Nach dem Ende des Krieges aber kommt die Ernüchterung über den Nationalsozialismus und Harlan begibt sich auf die jahrzehntelange Suche nach politischen und menschlichen Alternativen. 1948 – ein Jahr bevor sein Vater wegen Verbrechens gegen die Menschlichkeit angeklagt wird und drei Jahre vor dessen Freispruch – zieht er nach Paris und studiert an der Sorbonne Philosophie und Mathematik. Er wohnt mit dem damaligen enfant terrible der dortigen Philosophieszene, Gilles Deleuze, mit Michel Tournier und Pierre Boulez zusammen und beginnt, für den französischen Rundfunk zu arbeiten. Während eines Israel-Besuchs lernt er Klaus Kinski kennen, schreibt schließlich 1953 sein erstes Theaterstück „Bluma“. Harlan reist in die Sowjetunion, zwei Jahre später folgen die ersten Gedichte in deutscher Sprache und die Mitarbeit am Drehbuch zu „Verrat an Deutschland – Der Fall Sorge“.

1958 ist er zusammen mit Klaus Kinski und Jörg Henle Mitbegründer des Jungen Ensembles in Berlin, geht ein Jahr später für fünf Jahre nach Polen und betreibt Recherchen über die Vernichtungslager Kulmhof, Sobibór, Belzec und Treblinka, aus denen schließlich 2.000 Anklagen gegen Kriegsverbrecher in der Bundesrepublik folgen. Dort reagiert man im Todesjahr des Vaters mit einem Verfahren wegen Landesverrats, weil Harlan geheime deutsche Dokumente in polnischen Medien veröffentlicht hat.

Harlan bricht seine Arbeiten in Warschau ab, zieht weiter nach Italien und schließt sich dort der linken Gruppe „Lotta Continua“ an, geht anschließend wieder nach Frankreich. Immer wieder reist er an die Schauplätze linker und antikolonialer Kämpfe, nach Bolivien, Chile und in die USA, engagiert sich für die Widerstandsbewegung gegen Pinochet. Während der portugiesischen Nelkenrevolution sitzt Harlan als Mitglied im Revolutionsausschuss, während er „Torre Bella“ dreht, ein eindringliches Drama über den Aufstand von Tagelöhnern gegen einen arroganten Landherren.

Von 1978 bis 1984 arbeitet Harlan an „Wundkanal“, seinem provokantesten und umstrittensten Film, in dem er die These verfolgt, dass die inhaftierten Terroristen der RAF umgebracht worden seien. Dabei geht er von der oft verschwiegenen Tatsache aus, dass der für den Bau des Gefängnisses Stammheim mitverantwortliche Paul Werner NS-Standartenführer und stellvertretender Leiter des Reichskriminalpolizeiamts gewesen war.

Die Entfaltung eines klaren Prinzips kann Harlan in seiner Biographie dennoch nicht entdecken: „Alles, was bei mir wesentlich geworden ist, hat sich sozusagen als Nebenwirkung ergeben von etwas anderem. Nie entsprach beispielsweise (…) die Verfolgung von Kriegsverbrechen irgendeinem Lebensziel oder irgendeiner Lust. (…) Meine Lebensvorstellung ist immer auf wundersame und für mich immer von mir gut empfangene Weise gestört worden.“

In Hübners und Voss’ Projekt „Wandersplitter“, Teil von deren „Menschengalerie“-Serie, erzählt der Abenteurer, Revolutionär, Autor, Filmemacher und Nazijäger in seinem Sanatoriumszimmer von seinem Leben und Denken. Er spricht, denkt nach, verführt, bricht ab – zwischen ihm und der Kamera ist dabei stets nur ein halber Meter Abstand. Der Film, der entsteht im Kopf.

Harlan reflektiert über den Umgang mit der Sprache, die für ihn „theoretisch in der Lage [ist], Kathedralen darzustellen oder zu sein.“ Er spricht über die Schuld und darüber, dass es „kaum eine größere Verdunklungsgefahr für die Wirklichkeit [gibt] als die Zuneigung zu Urhebern von Wahrheiten“. Er erzählt vom Verhältnis zum Vater und dem Versuch, „dass mir das nicht passiert, dass ich mich menschlich benehme, wenn es zunächst einmal darum ging, etwas Unmenschliches auch so festzustellen, wie es ist“. Man erfährt, dass in Deutschland eigentlich jeder vernünftig geworden sein könnte – „Wer hat denn die Gelegenheit in Guatemala, so viel zu kapieren wie dieses Scheißvolk?“ – und über die vielen Kinder, die heute Nein sagen zu Gewalt und Krieg.

Ziel des Projekts ist dabei auch, über die gängigen Formen der Repräsentation im Kino hinauszugehen. Die Filmsegmente, die dem episodischen Charakter von Harlans Lebenserzählung eine eigene filmische Form zur Seite stellen – die Splitter –, sollen den klassischen Rahmen der Filmvorführung sprengen. Und so zeigen Hübner und Voss bei den Vorführungen weitere ihrer gedrehten Splitter und stellen sich, wie auch am Mittwoch in Hamburg, dem Dialog mit dem Publikum, um die Beschäftigung mit dem Film und der Person Harlans auf einer zweiten Ebene zu erweitern. ROBERT MATTHIES

Mi, 12. 9., 20.30 Uhr, 3001, Schanzenstraße 75 (im Hof), www.3001-kino.de; Weitere Vorstellungen am 13. und 14. 9. sowie vom 16. bis zum 19. 9. um 16.45 Uhr.