Wahl mit Hindernissen

AUSGEBREMST Die Aktion Mensch testet Wahllokale auf ihre Barrierefreiheit – nur die wenigsten genügen allen wesentlichen Anforderungen

„Nur die Möglichkeit der Briefwahl, das ist keine Demokratie“

Raúl Krauthausen

Der weiße Kleinbus fährt auf den Hof der Rudolf-Ross-Schule in der Neustadt. Am Steuer sitzt der Entertainer Guildo Horn, gewohnt farbenfroh ausstaffiert – mit orangefarbenem Anzug und lila Plateau-Schuhen. Als Busfahrer begleitet er ein Team aus Menschen mit Behinderung für die „Aktion Mensch“. Bundesweit unterziehen die Tester im Vorfeld der Bundestagswahl diverse Wahllokale einem Barriere-Check, um auf mögliche Hürden aufmerksam zu machen.

„Wir wollen unsere Stimme abgeben“, sagen die Tester und machen die Handbewegung zur Stimmabgabe: Daumen und Finger zusammen, wie ein Tiermaul, die Hand zeigt nach unten. Die Geste funktioniert. Doch um überhaupt den Zettel in die Urne werfen zu können, muss Barrierefreiheit herrschen.

Bis jetzt sind nur 177 der 1.276 Wahllokale in Hamburg vollständig barrierefrei, mit Einschränkungen verdienen sich dieses Prädikat 801 Wahllokale. Auch die Begehung des Schulgebäudes, in dem man ebenfalls wählen kann, zeigt Hürden auf: Raúl Krauthausen (23) kommt in seinem Rollstuhl nicht durch den Haupteingang in die Schule, da eine Treppe ihn ausbremst. Er muss durch eine Hintertür.

Für den blinden Michael Wahl kommt diese Treppe sehr überraschend: „Bodenmarkierungen oder ein verlängerter Handlauf hätten mir geholfen“, sagt er. Und die Probleme fingen schon vor der Wahl an. Sich als Blinder über die Parteien und Programme im Fernsehen oder Internet zu informieren sei – trotz Sprachhilfen – noch immer sehr schwierig. Um ohne fremde Hilfe wählen zu können, brauche er zudem eine Schablone, die ihm zeigt, wo er die Kreuze setzen muss. Die muss er sich selbst organisieren, es gibt sie nicht vor Ort.

Wieder andere Hindernisse stehen der 47-jährigen Petra Groß im Weg. Sie hat Lernschwierigkeiten und benötigt zur Wahl Infos in Leichter Sprache mit erklärenden Bildern und Symbolen. „Ich wünsche mir solche Wahlinformationen, um zu verstehen: Was wollen die Politiker? In der Wahlkabine brauche ich außerdem Zeit, um mich in Ruhe entscheiden zu können.“

Warum wählen Menschen mit Behinderung angesichts solcher Hürden nicht einfach per Briefwahl? Raúl Krauthausen hat da eine Antwort: „Wenn wir nur die Möglichkeit der Briefwahl haben, ist das keine Demokratie mehr. Ich möchte mich auch am Wahltag um kurz vor 18 Uhr noch entscheiden können, zu wählen.“

Also muss Hamburg weiter an barrierefreien Wahllokalen arbeiten – und investieren. Der Hamburger Wahlleiter Willy Beiß schlägt vor, dass Betroffene notfalls in ein benachbartes Wahllokal wechseln. Doch eine Lösung sei das nicht. Beiß findet es „wichtig, dass man langfristig überall barrierefrei wählen kann“ – das dürfe „keine Utopie bleiben“.  FRIEDERIKE FALKENBERG