Stiller Monolith in Grau

Es ist ein schlichter Bau aus Glas und Sichtbeton, der auf subtile Art Einfühlung erlaubt: Gestern wurde das neu gestaltete Dokumentationszentrum der Gedenkstätte Bergen-Belsen eröffnet. Wichtigstes Detail: Das Fenster ins ehemalige Lager

VON PETRA SCHELLEN

Er wollte nichts Spektakuläres. Wollte auch keine Bedrückung erzeugen, wie es Architekt Daniel Libeskind etwa im Berliner Jüdischen Museum tut. Der Braunschweiger Architekt Michael Zimmermann, Gestalter des gestern eröffneten neuen Dokumentationszentrums der Gedenkstätte Bergen-Belsen, hat bewusst auf spitz zulaufende Winkel und finstere Räume verzichtet: Als schlichten, lang gezogenen Beton-Glas-Bau hat er das monolithische Gebäude angelegt, das seit heute öffentlich begehbar ist.

Und abzuschreiten gibt es eine Menge, wenn man sich dem ehemaligen Lager für Kriegsgefangene und, seit 1943, jüdische Häftlinge nähert, von dem fast nichts erhalten ist. Die Baracken waren im Mai 1945 abgebrannt worden, um die Typhusepidemie einzudämmen. Später hatte man auf dem Gelände, auf dem 52.000 Menschen starben, eine Heidelandschaft angelegt, die der Nazi-Ideologie recht nahe kam. Inzwischen sind dort Bäume gewachsen; auch der eine oder andere Gedenkstein ist da.

Gebäude oder Fundamente hat man bislang aber nicht rekonstruiert. Das soll in den nächsten Jahren geschehen, weshalb das Diktum für die Ausschreibung des Dokumentationszentrums eindeutig war: keine Bebauung des ehemaligen Lagergeländes, in das lediglich ein „steinerner Weg“ führt.

Der Braunschweiger Architekt hat sich akribisch daran gehalten – jedenfalls fast: Nicht nur, dass das Gebäude direkt an einer der ehemaligen Lagerstraßen liegt. Zimmermann hat auch gewagt, das Gebäude direkt auf das Lager zulaufen zu lassen und sogar einen Hauch weit in das Gelände einzudringen. Denn er lässt einen hängenden Gebäudeteil in das Lager hineinragen wie eine Aussichtsterrasse. Doch das merkt nur, wer sich bückt. Eine dezente Geste.

Zurückhaltung ist ohnehin Diktum des Architekten: Subtil lässt er Betonelemente, die man auch hätte stützen können, über den Köpfen der Besucher schweben. Man beunruhigt sich – aber nur ein bisschen. Leicht rampenartig steigt im Ausstellungsgebäude der Weg an, bis man zur Fensterfront im überhängenden Teil gelangt, von der aus man das ehemalige Lagergelände sieht. Wer es nicht weiß, mag die herbstliche Pracht idyllisch finden. Wer zuvor durch die Ausstellung im kargen Betonbau gegangen ist, nicht mehr: Die Geschichte des Kriegsgefangenenlagers und des KZ hat man zuvor durchwandert, ist an Wänden mit Zeitzeugen-Videos, Fotos und Dokumenten vorbeigegangen; auch Computer zur Recherche wurden aufgebaut. Das alles ist so karg und klar wie die Aufgabe, die sich Zimmermann gestellt hatte: „Wir wollten eine begehbare Skulptur erstellen, in der Kontemplation möglich ist.“ Die habe er nicht in erster Linie für die Überlebenden gemacht, sondern für die, die Einfühlung und Information suchen.

Empfindsam wird man durchaus im zunächst so kargen Beton: Zwischen zwei Mauern, die sich bewusst nicht verjüngen, kann man, anstatt ins Ausstellungsgebäude abzubiegen, bis zum Lagergebiet laufen. Rechts und links der Betonwände ist Wald – aber in ihn kann man nicht entweichen, bis das Lager erreicht ist. Wer damals ins Lager getrieben wurde, konnte auch nicht fliehen.

Doch explizit macht Zimmermann das nicht. Das – und auch die kleine Grenzüberschreitung ins Lagergelände hinein – soll man selbst bemerken. Ob das funktioniert? Zimmermann glaubt fest daran, und hilfreiche Beschriftungen sind zunächst nicht vorgesehen. Auch auf Variantenreichtum hat der Architekt bewusst verzichtet. „Wir haben die immer gleichen Türgriffe, Abstandhalter, Verglasungen, gewählt. Schließlich ist das Material nicht das Thema. Sondern das Erleben.

Das ist durchaus folgerichtig: Emotionaler können die Ausstellungsmacher später werden, wenn Barackenfundamente oder Gebäude rekonstruiert sind. Doch zunächst bleibt nur der indirekte, auf Dokumente gestützte Zugang: Vieles ist noch auszugraben, bevor man authentisch nachbilden kann. Nur in einem Punkt durchbricht Zimmermann sein minimalistisches Konzept: Er hat Fundstücke – Gürtel-Knöpfe, Bügel, Schuhe – unter Glas in den Boden eingelassen.

Es sind die einzigen derzeit verfügbaren sinnlichen Zeugen; den Rest bilden Dokumente. Und auch die – zweitwichtigste Quelle zur Rekonstruktion dessen, was in Bergen-Belsen geschah – wurden erst spät zugänglich und gebaren überhaupt erst die Idee eines Dokumentationszentrums an diesem Ort.

Bis zu deren Zugänglichkeit war es ein komplizierter Weg: „Es existieren rund 15.000 Dokumente über die sowjetischen Kriegsgefangenen auch in Bergen-Belsen, die die Wehrmacht erstellt hatte. Die russische Armee hat sie 1945 mit nach Russland genommen“, sagt Wilfried Wiedemann, Leiter der Stiftung Niedersächsische Gedenkstätten.

Dort lagerten sie in Geheimarchiven, bis sie ein Mitarbeiter der Gedenkstätte Bergen-Belsen in den Neunzigern ausfindig machte. „Einer meiner Mitarbeiter hat in den Neunzigern Zugang zu russischen Geheimarchiven bekommen. Es hat uns einige Einladungen an russische Leutnants gekostet.“

Vertrauen war auch das wichtigste Pfand bei der Erschließung des zweiten relevanten Aktenkomplexes – 60.000 Einzeldokumenten über jüdische Gefangene, davon 10.000 über Bergen-Belsen. Sie lagerten in Israel – im Archiv der Überlebenden von Bergen-Belsen. Auch sie waren den Deutschen jahrzehntelang verschlossen. „Letztlich hat wohl die Tatsache, dass Deutschland verantwortungsvolle Gedenkstättenarbeit leistete, dazu beigetragen, dass Israel uns für vertrauenswürdig befand“, glaubt Wiedemann.

Andererseits – musste man, um Erhellendes über Bergen-Belsen zu finden, gar nicht nur in die Ferne schweifen: Im Keller der Hannoverschen Oberfinanzdirektion habe man in den Neunzigern Akten gefunden, die über die Plünderung von Juden Auskunft gaben. „Da wurde minuziös verzeichnet, zu welchem Preis Möbel und anderes versteigert wurden“, sagt Wiedemann.

Doch mit diesen Akten der Hoffnungslosigkeit endet weder das Gedenken noch die Ausstellung. Denn Tatsache ist auch, dass in Bergen-Belsen von 1945 bis 1950 das größte jüdische DP-Camp auf deutschen Boden existierte, in dem sich ein auch ein reges kulturelles Leben entwickelte, bis die Insassen nach Palästina auswanderten.

Das gelang aber nicht sofort. Deshalb blühte im nahen Celle nach dem Krieg einige Jahre lang eine große jüdische Gemeinde; auch eine Synagoge von 1740 fanden sie vor. Diese war, wie so oft, in einem Fachwerkhaus versteckt. Das stand so nah am Nebenhaus, dass die Nazis es während der Reichspogromnacht 1938 nicht abzubrennen wagten.

Auch heute hat Celle wieder eine jüdische Gemeinde. Sie zählt zum progressiven Flügel. Vielleicht ein Indiz jener Hoffnung, die Michael Zimmermann mit dem Gebäude in Bergen-Belsen initiieren will. Er konzipierte keine Einbahnstraße, sondern einen Rundweg. Um zu zeigen, „dass es für uns Nachfolgende durchaus Hoffnung gibt“.

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