kommentar des tages
: Von China lernen

Es stimmt schon: Manchmal steckt auch im abgedroschensten Klischee ein Funken Wahrheit. Richtig ist aber auch, dass Klischees nicht desto wahrer werden, je öfter man sie wiederholt. Wir sähen derzeit die „politischsten Spiele“, die die Welt je gesehen habe, heißt es. Und den „problematischen“ Spielen in Beijing würden mindestens so problematische in Sotschi folgen.

Problematisch ist dabei vor allem die uralte und im Kalten Krieg noch einmal zu Ehren gekommene Gegenüberstellung von freiem Abendland und tyrannischem Orient. Denn sie lässt uns gar nicht erst auf die Idee kommen, dass die sportlichen Großereignisse der Moderne immer schon propagandistischen Charakter hatten. Dabei weiß doch jeder, dass bei den Spielen und jedem anderen Megaturnier die Stunde der Marken schlägt. In friedlicher Koexistenz werben Adidas, Nike & Co. für ihre Produkte, Städte vermarkten ihren Standort, und Nationen feilen an ihrem Image.

Nehmen wir die letzte Fußball-WM: Freuten sich die Kommentatoren, die Politiker und überhaupt die deutschen Leute nicht tagein, tagaus wie Honigkuchenpferde darüber, den Spuk des humorlosen, steifen oder gar hässlichen Deutschen mit ihrer sonnigen Gute-Laune-Feier endlich und ein für alle Mal ausgetrieben zu haben?

Sind die Spiele in Beijing also „problematisch“? Natürlich, sie sind auf ihre Weise problematisch. Aber ebendas ist ja gerade der Erfolg von Beijing: Erstens müssen sich die Chinesen damit auseinandersetzen, dass Hausarrest für Demokraten, Zensur und Parteikorruption anderswo keineswegs für normal gehalten werden. Zweitens aber, und das ist das Beste, haben die Spiele in China gerade wegen ihres „problematischen“ Charakters eine gigantische Volksaufklärungskampagne ins Leben gerufen, und zwar bei uns: Nie haben Westler in so kurzer Zeit so viel über das vormals fremde, exotische Land gelernt.

Die Liste der neuen Erkenntnisse ist zu lang, um sie hier auszubreiten, aber ein Beispiel muss schon sein: Wir haben gelernt, dass Hu Jintao auch deshalb zum ersten Mann der chinesischen KP werden konnte, weil er aus der Provinz stammt. Ihm wird zugetraut, die Stimmung in jenen abgehängten Regionen des Landes beurteilen zu können, die vor einer sozialen Explosion stehen. Verstanden haben wir aber auch, dass die KP die Bauern nicht von der Revolution abhalten wird, wenn sie ihnen weiterhin jede Möglichkeit legaler Selbstorganisation verwehrt. Hatten Sie das vor zwei Wochen schon gewusst? Ich nicht. ULRICH GUTMAIR