Der Revolver in meiner Hand

SCHIESSEISEN In Montana, im Nordwesten der USA, sind Waffen Alltag. Was passiert mit einem, wenn man einen eigenen Revolver hat? Ein Experiment

Mich packt ein seltsamer Drang. Ich hebe den Revolver und schieße in die Luft

AUS MISSOULA MIKE GERRITY

Ich halte Ian den Revolver unter die Nase.

„Okay, jetzt die Augen auf!“

Er nimmt die Hände vom Gesicht und starrt auf die Waffe, dann fasst er sie an.

„Whoa!“

Es ist erst ein paar Stunden her, dass ich das Ding gekauft habe, und ich kann’s nicht lassen, damit anzugeben. Ian, 21, hat noch nie einen Revolver angerührt. Fühlt sich merkwürdig an, findet er, aber auch irgendwie cool. Als Chris, 20, vorbeikommt, packt er die .38 Special gleich, mit leuchtenden Augen.

„Hübsch!“

Ich fläze mich auf die Couch unserer Studentenbude. Chris fängt an, das Ding auszurichten, zieht es flink unterm Arm hervor, als wäre er beim Casting für einen Räuberfilm. Whitney, 23, seine Frau, schüttelt den Kopf.

„Oh Gott“, seufzt sie, während sie in einer Beilage der New York Times über das Coming-out von Sechstklässlern blättert. Ihre Füße baumeln über einer Sessellehne, sie versucht, uns Kindsköpfe zu ignorieren. „Jetzt verstehe ich, warum Kids losgehen und aufeinander schießen“, sagt sie. „Sieht wie ein Spielzeug aus.“

Ich strecke den Arm Richtung Chris aus, damit er mir das Ding zurückgibt, und er wirft es mir zu. Der schwarze Revolver fällt auf die Couch zwischen uns.

Whitneys Augen wandern immer wieder zu der Waffe, die da wie zufällig auf der Couch liegt, zwischen DVDs, Lautsprecherkabeln und leeren Fast-Food-Tüten. Chris denkt laut darüber nach, wie er günstig an eine eigene Faustfeuerwaffe kommen könnte. Er hat zwar schon ein paar Gewehre, aber wenn er einen Revolver hätte, könnten wir zusammen schießen gehen, ohne uns abwechseln zu müssen. Whitney lächelt. So weit kommt’s noch.

„Macht, was Ihr wollt, aber in meine Wohnung kommt mir so ein Ding nicht.“

Mein Mitbewohner Justin tritt durch die Tür und wirft seine schwarze Carhartt-Jacke über eine Stuhllehne. Er hat einen Stresstag hinter sich. „Schade, dass du mir das Ding nicht geliehen hast, bevor ich losgegangen bin“, sagt er und langt nach der Waffe. Er spannt den Hahn und zielt auf die Wand. „Das Ding ist nicht geladen, oder?“

***

BAM!

Ich drücke zum fünften Mal ab, und die 38-Millimeter-Patrone saust aus dem Lauf in Richtung des Pappkameraden. Wenn der ein Mensch wäre, hätte das Vollmantelgeschoss seinen Hals rechts durchschlagen.

Meine Mission an diesem Tag ist es, einen Schießtest zu bestehen. Ich will zielen lernen und ich will eine Bescheinigung. Damit ich die Waffe tragen darf.

Aktuelle Zahlen dazu, wie viele Waffen es in welchem Staat gibt, sind nicht erfasst – bisher müssen Waffen nicht registriert werden. 2002 wertete das Violence Policy Center, eine Organisation für Waffenkontrolle in Washington, D.C., eine breit angelegte Studie aus: 240.000 Menschen in den USA wurden zum Thema Waffenbesitz befragt. 40,8 Prozent der Haushalte gaben an, eine Waffe im Haus zu haben. Mit sechs von zehn Haushalten liegt Montana weit über dem Durchschnitt.

Für den Waffenschein reicht ein Anfängerkurs

So lange ich denken kann, sind Waffen ein Teil meines Lebens. Nur selbst besessen hatte ich nie eine. Ich beschloss, das zu ändern. Ein Selbstexperiment.

Mir ging es darum herauszufinden, wie ich wirklich zu Waffen stehe. Sind sie Werkzeuge zur Verteidigung gegen Kriminelle und Tyrannen? Oder doch eher feige Accessoires von Killern und machtgierigen Behörden, die den Menschen Angst machen wollen? Mir einen Revolver zuzulegen, schien der einfachste Weg, eine Antwort zu finden.

Gary Marbut tritt vor mich und den Rest der waffenschwingenden Truppe. Durch meine Ohrstöpsel kann ich seine Anweisung, nachzuladen, kaum verstehen. Er hat einen Schnurrbart, und durch eine großformatige Brille wandert sein prüfender Blick die Reihe entlang.

Marbut leitet die eintägige Schulung, bei der wir uns ein Schreiben verdienen werden, das er höchstpersönlich abfassen wird. Das Schreiben bescheinigt, dass wir mit einer Faustfeuerwaffe umgehen können. Wenn wir es beim Bezirkssheriff vorlegen, bekommen wir die Genehmigung, eine Waffe verdeckt zu tragen. Mehr bedarf es dafür im Staat Montana nicht.

Das Schulungszentrum liegt im Bitterroot National Forest am Stadtrand von Missoula. Es ist so neu, dass wir das Sägemehl von den Stühlen wischen müssen, bevor Marbut mit seiner Lektion beginnt.

„Sicherheit im Umgang mit der Waffe“, sagt Marbut, sei ein Kurs für Leute, die „den Entschluss gefasst haben, keine Opfer zu sein“. Er will klarstellen, dass wir nicht die Einzigen sind, die es für eine gute Idee halten, sich zu bewaffnen. Jeder Durchschnittshaushalt in Montana, behauptet er, habe 27 Schusswaffen. Schwer zu glauben. Aber Marbut ist Fachmann für alles, was mit Waffen zu tun hat. Als Gutachter ist er schon in mehreren Strafverfahren aufgetreten.

Die Gesetze von Montana besagen, dass ein Bürger berechtigt ist, Gewalt gegen einen anderen Bürger anzuwenden, wenn er es für notwendig erachtet, kriminelle Übergriffe zu verhindern – auf „Grundbesitz (abgesehen von bewohnten Gebäuden) oder persönliche Gegenstände“. Gewalt, die absehbar zu ernsthaften Verletzungen oder zum Tode führt, darf andererseits nur angewandt werden, wenn sie notwendig erscheint, um eine schwere Straftat zu verhindern. Also nur dann, wenn man selbst angegriffen oder bedroht wird.

Marbut betont, dass es kein Recht, sondern ein Privileg ist, eine Schusswaffe verdeckt in der Kleidung, der Handtasche oder im Rucksack mitführen zu dürfen. Offen eine Waffe zu tragen, zum Beispiel in einem Schulter- oder Hüftholster, bedarf keiner Lizenz. Er selbst führt seine Waffen lieber verdeckt, um andere Leute nicht zu provozieren. Auch taktisch gesehen ist das verdeckte Tragen klüger, sagt er. Der Überraschungseffekt.

Draußen am Schießstand stelle ich mich auf. Meine rechte Hand umfasst die linke überm Griff. Ich feuere fünf Schüsse auf den durchlöcherten Pappkameraden. Orangefarbene Feuersterne explodieren in der Trommel und hinterlassen eine duftende Rauchfeder von verschossenem Zündstoff.

Ein etwa 20 Jahre alter Typ, der für Marbut arbeitet, fragt, ob ich bereit für die Prüfung bin. Bevor ich es selbst versuchen kann, geht er es Schritt für Schritt mit mir durch: Zieh die Waffe auf Bauchhöhe, hebe sie mit beiden Händen in Brusthöhe, richte den Lauf gerade nach vorn. Ich muss noch nicht mal abdrücken, da sagt er schon, dass ich bestanden habe. Die Bescheinigung wird binnen einer Woche bei mir im Briefkasten sein.

Beretta? Magnum? Im Laden gibt es alles

Beim Anblick der Smith and Wesson .357 Magnum frage ich mich, wie es wäre, einen Typen damit in die Fresse zu hauen. Die halbautomatische Glock mit ihrem perfekten Design schüchtert mich ein. Sie sieht so aus, als könnte jeder Depp damit schießen. Die Beretta, eine Polizeiwaffe, wirkt ein bisschen langweilig. Zu wuchtig. Zu zahm. Schon seit ungefähr einer Stunde betrachte ich im Waffengeschäft Axeman South am Stadtrand die Modelle – auf der Suche nach der richtigen Waffe.

Der Laden verkauft gebrauchte Waffen aus dem Großhandel. Das soll sicherstellen, dass ich mir nichts zulege, was schon mal bei einem Überfall oder so benutzt worden ist.

Zwischen schwarzen und silbernen Pistolen entdecke ich etwas Pinkfarbenes. Ich frage Patti hinterm Tresen. Eine Walther P22, „eine Supermethode, um Frauen an die Waffe zu bringen“, sagt sie. „Wir haben heute schon eine verkauft.“

Dann finde ich sie, meine .38 Special. Fünf Schuss. Klein genug, um in meine Tasche zu passen, gerade schwer genug, damit ich spüre, dass sie da ist.

Ich muss ein Formular ausfüllen. Name. Geburtsdatum. Staatsangehörigkeit. Sozialversicherungsnummer ist kein Muss. Ethnische Zugehörigkeit schon. Als ich frage, warum, schaut mich ein Kunde an, als wäre ich sieben Jahre alt. „Deine Sozialversicherungsnummer ist dir nicht auf die Stirn tätowiert.“

Dann noch 13 Fragen, bei denen man Ja oder Nein ankreuzen muss. Kaufen Sie diese Waffe wirklich für sich selbst? Stehen Sie unter Anklage wegen einer Straftat, oder wurden Sie je wegen einer solchen verurteilt? Fliehen Sie vor der Justiz? Wurden Sie je wegen einer Beziehungstat verurteilt? Es folgen vier weitere Fragen über meine Staatsangehörigkeit und ob ich illegaler Einwanderer bin. Nach einem kurzen Telefonat mit jemandem vom National Instant Criminal Background Check System, einer bundesweiten Stelle, der ich melden muss, dass ich gerade eine Waffe kaufe, erkläre ich der Verkäuferin Sarah, dass ich mit Visa-Karte zahle.

Sie empfiehlt mir zum Revolver noch eine Schachtel Hohlspitzgeschosse, von der Sorte, die erst in das Fleisch eindringen und dann aufpilzen, sodass nahegelegene Organe wie von einer Abrissbirne erschüttert werden. Ich nehme doch lieber die billigere Sorte, die für Schießübungen gedacht ist. Vollmantelgeschoss, je 19,5 Gramm schwer.

***

Ich stellte mir eine entwaffnete Bevölkerung gegen einen bewaffneten Staat vor

Der Revolver in meiner Hand. Ich atme tief durch. Mein dritter Schuss reißt ein knopfgroßes Loch in die Nase von Elmo, dem dummlustigen roten Monster aus der Sesamstraße. Ich krabbele die mit Patronenhülsen übersäte Böschung hoch und stelle fest, dass Elmos Hinterkopf geborsten ist.

Bei Walmart gab es mit Süßigkeiten gefüllte Eimer, die aussehen wie die Sesamstraße-Helden, im Sonderangebot. Ich griff zu. Schwieriger war es, an die Munition zu kommen, die ich brauchte, um mit Chris schießen zu gehen. Ich musste in drei Läden, bevor ich die Schachtel 38er Patronen in der Hand hielt.

Seit der Wahl von Barack Obama verkaufen sich Waffen und Munition wie Weihnachtsspielzeug. Laut einem Bericht von National Public Radio stieg der Verkauf Ende 2008 um zehn Prozent. Die Welt der Waffennarren ist von Angst erfüllt, dass der Präsident das Verbot von Sturmgewehren erneuern oder den Verkauf anderer Waffentypen verbieten könnte. Bisher hat Barack Obama keine Anstalten gemacht, die Gesetze zu verschärfen. Aber die Leute rüsten vorsorglich auf.

Ich tausche meine Pistole gegen Chris’ Gewehr, ein Remington, Kaliber .308. Die Luft ist kalt und neblig auf dem Waldweg,etwa 30 Minuten von Missoula entfernt. Ich stecke drei Patronen ins Magazin. Dieses Ding ist lauter als eine Handfeuerwaffe.

Chris steht auf seine Munition. Seine Patronen sind länger als meine und haben scharfe graue Spitzen. „Sie sind so eine legale Version von Hohlspitzgeschossen für Gewehre“, fachsimpelt er. Ich habe gehört, dass Patronen mit Silberspitzen schusssichere Westen durchschlagen können. „Bullenkiller“, hat ein Polizist sie mal genannt. Ihr Einsatz in kleinkalibrigen Waffen ist in Montana völlig legal.

Wir tauschen zurück. Er fummelt am Magazin, mich packt der Drang, etwas zu tun, an das ich schon oft gedacht habe. Mitten im Satz hebe ich den Revolver und schieße in die Luft. Chris lässt das Magazin fast fallen.

„Wahrscheinlich keine gute Idee“, sagt er entgeistert.

„Na und?“

Chris sagt, dass eine in die Luft geschossene Patrone jemanden verletzen kann – auf ihrem Weg zurück zur Erde. Ups. Ich hoffe, dass gerade keiner im Wald unterwegs ist. Bevor wir abhauen, feuern wir noch in eine Pfütze. Weil wir das Zeug dazu haben.

***

Als ich das erste Mal in meinem Leben einen Schuss hörte, war ich in der High School. An einem Morgen vor der ersten Stunde knallte es in der Eingangshalle, als hätte ein Hammer auf Glas geschlagen. Ich dachte, ein Cola-Automat wäre umgekippt. Drei Stunden und eine Lautsprecherdurchsage später wusste ich: Den Typen kannte ich.

Er war mit einer Handfeuerwaffe in die Toilette im Erdgeschoss gegangen, während hunderte Schüler in ihre Klassenzimmer strömten. Er verließ die Schule auf einer Bahre, von Kopf bis Fuß mit einem weißen Tuch bedeckt. Die Hausmeister zogen Eimer mit blutigem Wasser über den polierten Steinfußboden.

Die Schulleitung befürchtete Nachahmungstäter oder Racheakte. Es gab Gerüchte, dass der 17-Jährige gehänselt worden war, weil er dauernd Schwarz trug. Am folgenden Montag wimmelte die Schule von Spürhunden und bewaffneten Polizisten. Ich lief in einem schwarzen T-Shirt herum, das einen Beamten mit der Waffe im Anschlag zeigte. Untertitel: „Wachtmeister Freundlich?“ Der Rektor bat mich, das Hemd zu wechseln. Er sagte, das T-Shirt mache die Polizisten nervös. Eigentlich wollte ich ihnen signalisieren, dass sie mich nervös machten.

Zu diesem Zeitpunkt war ich, anders als die meisten Klassenkameraden, noch nicht mal auf der Jagd gewesen. Mein Vater angelte lieber. Über seine Zeit in Vietnam sprachen wir selten, vielleicht vier- oder fünfmal, und auch nur, nachdem ich insistiert hatte. Er wurde in Kampfhubschraubern eingesetzt. Ob er getötet hat, habe ich ihn nie direkt gefragt. Einmal fragte ich, wie er denn überleben konnte, damals, als er abgeschossen wurde. „Wir hatten zwei Gewehre und einen Granatwerfer hinten drin“, antwortete er. Ich traute mich nicht weiterzufragen.

Meine Mutter ist Ärztin. Sie verbot mir Raketen

Mit elf nahm ich meinen Mut zusammen und besorgte mir Feuerwerkskörper für den Unabhängigkeitstag. Meine Mutter, eine Kinderärztin, die um den 4. Juli immer Kinder mit verbrannten oder abgerissenen Fingern behandeln musste, hatte mir verboten, auch nur in die Nähe von Raketen zu kommen. Das Verbot schlug ins Gegenteil um. Als Teenager bastelte ich heimlich Sprengsätze aus alten Feuerwerkskörpern und Benzin, jagte damit Schrott in die Luft.

Meinen ersten Schuss gab ich auf einem Feld in der Nähe meiner Heimatstadt Great Falls ab. Die Mauser meines Freundes Tim, eine schwere Waffe mit Schlagbolzen, ließ mich drei Schritte rückwärts taumeln, nachdem ich abgedrückt hatte. Das nächste Mal verschaffte ich mir einen besseren Stand. Diesmal hielt ich eine schwarze Pump Gun und spürte, wie mir das Adrenalin in die Brust raste, während ich hintereinander fünf Schüsse in einen alten Computerbildschirm feuerte. Kein gewalttätiger Actionfilm, kein blutrünstiges Videospiel löste vergleichbare Gefühle aus. Es war laut, böse und machte Spaß.

Letztlich waren es Überzeugungen, die mich davon abhielten, mir als Jugendlicher eine eigene Waffe anzuschaffen. Für mich waren Handfeuerwaffen nichts anderes als die Verlängerung von Typen mit kurzen Schwänzen. Außerdem hatte ich als Teenager eine antiautoritäre Phase. Ich war auch dagegen, dass Polizisten Waffen tragen und einsetzen durften, ausgerechnet gegen jene Bürger, die sie vorgaben zu schützen.

Mein Freund Justin war 17, als er, gemeinsam mit Chris, vor einem Einkaufzentrum wartete. Die beiden waren mit Justins Mutter verabredet. Sie kurvten auf dem Parkplatz herum, die Stereoanlage voll aufgedreht. Es dauerte nicht lange, da umringten sie drei Streifenwagen. „Die Cops sprangen aus ihren Autos, richteten ihre Waffen auf uns und brüllten, ‚kommt verdammt noch mal aus dem Wagen raus!‘“

Als Justins Mutter verspätet eintraf, fand sie ihren Sohn und seinen Freund in Handschellen, an Streifenwagen gepresst. Die Polizisten durchsuchten Justins Auto nach Diebesgut. Als sie nichts fanden, entschuldigten sie sich und fuhren davon.

Die Erfahrung prägte Justins Einstellung zur Polizei. „Irgendwie komisch: Die haben dermaßen Angst vor den Leuten, dass sie wegen der geringsten Kleinigkeit ihre Waffe ziehen“, sagte er.

Ich war gegen Gewalt und Waffen, aber eine Frage ging mir im Kopf herum. Würden wirklich weniger Menschen sterben, wenn der Waffenbesitz stärker eingeschränkt oder verboten würde? Wären dann nicht nur Bullen und Verbrecher bewaffnet? Wollte ich das?

Meine antiautoritäre Einstellung wurde zum Schwachpunkt meiner Haltung zu Waffen. In meinem Kopf spielte sich das Szenario einer entwaffneten Bevölkerung gegen einen bewaffneten Staat ab. Solche Argumente kommen Waffenfans gerade recht. Marbut zitierte bei der Schulung eine jüdische Pro-Waffen-Gruppe, derzufolge die Verabschiedung von Waffenkontrollgesetzen in Nazideutschland der erste Schritt zum Holocaust war.

Zurück in Missoula. Ian wirft seine Füße auf den Couchtisch, die X-Box auf dem Schoß. In dem Videospiel ist er Mitglied einer Rockerbande. Ich frage ihn, ob er schon gehört hat, was in Seattle passiert ist: Vier Polizisten wurden in einem Café erschossen. Jeder trug seine Waffe, aber der Angreifer tötete sie alle. Die Polizei sprach von einer Hinrichtung.

Ian löst sich für einen Augenblick von seinem Spiel und schaut mich an. „Scheiße, Mann“, sagt er zu dem Fall in Seattle. Er schaut zurück zum Bildschirm, wo sein Rocker in ein Abrisshaus stürmt und mit seiner AK-47 auf alles feuert, was sich regt.

Ich wollte wissen, wie ich wirklich zu Waffen stehe. Deshalb beschloss ich, mir eine eigene zuzulegen

Ich selbst hatte an diesem Morgen ein paar Stunden gespielt, virtuelle Polizisten in Verfolgungsjagden und Schießereien verwickelt. Es macht Spaß zu sehen, wie viele du umbringen kannst, bevor du selbst im Kugelhagel zu Boden gehst. Die meisten Leute verbringen bei diesem Spiel ihre Zeit damit, Cops zu bekämpfen – ohne je auf eine der Missionen zu gehen, die der Plot vorsieht. Die meisten genießen es, in der Spielewelt zu tun, was sie wollen. Weil sie es können.

Es macht doch Spaß, so zu tun als ob, oder?

***

Ein im vergangenen August verabschiedetes Gesetz des Staates Montana besagt, dass von Selbstverteidigung auszugehen ist, wenn jemand in seinem Haus, am Arbeitsplatz oder im Auto auf einen Angreifer schießt. Der Gesetzentwurf stammte aus der Feder meines Schulungsleiters Marbut, des Vorsitzenden der Waffensportvereinigung von Montana. Er glaubt fest an eine These, die der Wirtschaftswissenschaftler John Lott in seinem Buch „Mehr Waffen, weniger Verbrechen“ propagiert. Lott will beweisen, dass in Bundesstaaten, die ihren Bürgern das verdeckte Tragen von Waffen erlauben, weniger Verbrechen geschehen.

Seit 2004 sind nach offiziellen Angaben 52 Menschen in Montana erschossen worden. Vier Fälle wurden als Selbstverteidigung gewertet, die anderen als Mord oder Tötung ohne Vorsatz.

Lotts Argumente sind von der Waffenlobby weidlich ausgeschlachtet worden. Doch nicht jeder will ihrer Logik folgen. 2003 veröffentlichten Ian Ayres und John Donahue III einen Artikel in der Stanford Law Review. Danach neigen Verbrecher in Gegenden, in denen das verdeckte Tragen von Waffen üblich ist, dazu, gesetzestreue Bürger ausstechen zu wollen: ein Wettrüsten zwischen Gesetzlosen und Gesetzestreuen. Selbst bei gesetzestreuen Bürgern, vermuten die Autoren, kann „die Einbringung einer Waffe in einen zornigen Disput, selbst bei Selbstverteidigung, einen harmlosen Streit zu kriminellem Totschlag oder schwerer Körperverletzung eskalieren“ lassen. Die Stichhaltigkeit dieser Hypothese wurde mir kürzlich in meinem eigenen Garten vor Augen geführt.

Ein Macho-Streit bei der Party. Einer zieht

Schauplatz war eine gut besuchte WG-Party. Die Gäste hingen vor dem Haus ab, der Garten war mit Bierdosen übersät. Zwei Jungs, beide Anfang 20, brachen einen Macho-Streit über ihre Militärzeit vom Zaun. Der eine, ein breitschultriger muskulöser Typ, D.A. genannt, hatte mir schon in lockerem Tonfall von den Leuten erzählt, die er möglicherweise im Irak getötet hat. An diesem Abend bekam er mit, dass ihn ein nicht besonders großer Junge namens Tom als „Hündin“ beschimpft hatte. Tom, der so viel ich weiß nie in Übersee eingesetzt wurde, ließ mich im vorigen Jahr eine ungeladene AK-47 anfassen, die er zu einer Party mitgebracht hatte.

Die zwei vollgelaufenen Typen gingen raus. Eine Handvoll Leute erzählte mir später, dass Tom eine Pistole geschnappt und auf D.A. gerichtet habe. D.A. brüllte Tom an, spottete, er solle doch abdrücken. Zum Glück beruhigte sich die Lage, die Waffe verschwand, die Party ging weiter. Tom hat niemanden erschossen. Aber er hätte es tun können.

***

Wir stehen auf dem Waldweg, eine halbe Autostunde östlich von Missoula. Die Sonne wirft Licht auf die Berge um uns.

Ich ziele auf eine Glasscherbe zu meinen Füßen. Es geht mir nicht darum, meine Schießkünste zu üben. Ich will blitzartig etwas vernichten und dabei in der ersten Reihe sitzen. Gierig lade ich die fünf Schuss in die Trommel, als ich merke, wie sie durchdreht und mir in die Hand rutscht. Der Revolver ist kaputt.

Ich habe Marbuts Bescheinigung immer noch nicht beim Sheriff vorbeigebracht. Vielleicht am Dienstag. Vielleicht vergesse ich es wieder. Die Bescheinigung gilt lebenslänglich, für den Fall, dass ich sie je brauchen sollte. Doch die Aussicht, das Ding irgendwann zu brauchen, macht mir Angst.

In dieser Nacht bleibt der Revolver unterm Fahrersitz liegen. Kalt, ungeladen und kaputt, neben ein paar leeren Bierdosen. Dreckig und vergessen. Mein Mangel an Ordnungssinn lässt mich vermuten, dass er dort lange liegen wird.

Mike Gerrity, 22, studiert Journalismus an der Universität von Montana in Missoula. Seit 2006 schreibt er für den Montana Kaimin.