Malerin und Modell

BILDNIS Es muss Anfang der 1990er gewesen sein, im dritten Stock einer Altbauwohnung am Ostberliner Zionskirchplatz

■ Stationen: Stein wurde 1970 in Ostberlin geboren. 1995 erschien der Roman „Das Alphabet des Juda Liva“. Er betreibt das literarische Magazin Turmsegler. Für „Die Leinwand“ (C. H. Beck) bekam er den Tukan-Preis.

■ Silvester: „Wie feiern Sie?“ – „Ich bin in Israel auf Lesereise. Silvester fällt auf Schabbat, und den werde ich in der Westbank verbringen – ganz in Ruhe, ohne Raketen!“ Foto: Michael Herdlein

VON BENJAMIN STEIN

Ich lasse mich nicht gern fotografieren. Das hat, ich gebe es ohne Umschweife zu, mit einer gewissen Eitelkeit zu tun oder vielmehr einem Komplex, den ich von Kindheit an mit mir herumtrage, inzwischen stark gemildert, doch nie ganz überwunden. Die Muskeln, die mein rechtes Auge bewegen sollten, verweigern seit meiner Geburt den Dienst, und so steht dieses Auge unbeweglich im rechten Augenwinkel und starrt – inzwischen nahezu blind – ins Leere. Dieses Auge hat wenig Liebe erfahren im Laufe der Jahre, weder von mir noch von anderen. Vielleicht rächt es sich dafür, indem es sich auf Fotos so dominant und irritierend in Szene setzt.

Wenn es um Porträts von mir geht, zitiere ich gern Picasso, der einer von ihm gemalten und über das Ergebnis tief enttäuschten Dame erwiderte: „Madame, eine wie Sie sollte sich fotografieren lassen. Dann sind sie sechs Zentimeter groß und grau.“ Mir liegt dieses Format nicht.

Gemalt zu werden ist mir deutlich lieber, und tatsächlich sind es vier Gemälde, in denen ich mich vor Jahren zum ersten und vielleicht einzigen Mal ganz als mich selbst wiedererkannte. Die Bilder sind verschollen wie auch die Malerin, der ich Modell gesessen habe. Das macht mir die Sache noch sympathischer. Denn viel plastischer als die Gemälde selbst ist mir in Erinnerung, wie sie entstanden sind. Die Geschichte also ist mir geblieben. Und in Geschichten fühle ich mich noch immer am wohlsten.

Es muss Anfang der 1990er gewesen sein, in Berlin, ein heißer Sommer, und alles spielte sich in einer Altbauwohnung im dritten Stock am Ostberliner Zionskirchplatz ab. Die Malerin hatte ich auf einer Vernissage kennengelernt, zu der mich eine befreundete Dichterin eingeladen hatte. Es war Sympathie zu spüren, als wir einander vorgestellt wurden, und wohl auch eine gewisse Anziehung, sodass wir uns verabredeten und ich sie wenig später besuchte.

Sie wohnte in einer für eine Ostberliner Kunststudentin herrschaftlichen Wohnung mit großer Wohnküche und zwei Zimmern. Im einen wurde gelebt, im anderen gemalt. An den Wänden standen, auf Rahmen gespannt, vorgrundierte Leinwände in vielen Formaten. Es roch nach Terpentin und Ölfarben. Spezialisiert war die Dame allerdings auf Radierungen, wovon ich gar keine Ahnung hatte, und so ließ ich mir zunächst die technischen Finessen des Radierens und Druckens erklären. Wir tranken in der brütenden Hitze eiskalten Anisschnaps, und irgendwann rückte sie damit heraus, dass sie noch kein Bild für die Abschlussausstellung habe. Gemälde waren gefordert. Und ihr fehlte vor allem ein Modell.

Ich hatte Zeit, aber ich schützte gleich meine Ungeduld vor: Ich könne nie und nimmer so lange stillsitzen. Das glaubte sie nicht, und sie schlug vor, die Bilder nur zu skizzieren, während ich Modell säße. Sie würde sie dann später zu Ende malen.

Wir können gleich anfangen, sagte sie: Dort ist ein Sessel. Zieh dich einfach aus und setz dich, wie es dir am bequemsten ist.

Während sie sich gleich daran machte, eine passende Leinwand auszusuchen und auf die Staffelei zu stellen, zögerte ich. Dass ich nackt Modell sitzen sollte, war mir nicht klar gewesen. Aber letztlich machte mir dieser Umstand die Sache sogar leichter, denn es kam mir so vor, als würde diesmal womöglich mein Körper als Ganzes Gelegenheit haben, den „Makel“, der mich seit Kindertagen bekümmerte, in den Hintergrund rücken zu lassen.

Also zog ich mich aus, während sie die Farben zurechtlegte.

Meine Sachen warf ich auf einen Haufen neben dem alten Sessel, auf den ich mich lümmelte, wie es gewünscht worden war, und auf den Dielen stand – zwischen Sessel und Staffelei – die halb geleerte Flasche Anisschnaps. Daneben lag ein Apfel. Diese beiden Gegenstände waren so etwas wie eine Demarkationslinie, die von Malerin und Modell nicht überschritten werden durfte, solange wir arbeiteten.

Ich bin zwei Tage geblieben. Die Flasche wurde geleert, der Apfel gegessen. Es war nur folgerichtig, dass die Demarkationslinie nicht bestehen blieb.

Die Malerin war im Grunde sehr schüchtern, und während ich „nur“ mit meinem ins Abseits starrenden Auge haderte, verwünschte sie einen Großteil ihres Körpers. Darüber sprachen wir nachts. Dass sie die einzige Frau in einer Klasse von lauter sehr auf ihre Männlichkeit pochenden Malern war, machte es nicht einfacher für sie.

Am zweiten Tag – es war wieder brütend heiß – ging sie zögerlich auf meinen Vorschlag ein, sich ebenfalls auszuziehen und nackt zu malen. Sie musste die Staffelei so rücken, dass sie sich nicht dahinter verstecken konnte. Und da sie Palette und Pinsel halten musste, war sie ganz meinen begehrlichen Blicken ausgeliefert. Und es wirkte. Ich glaube, ich fühlte mich unter ihren Blicken zum ersten Mal in meinem Leben wirklich schön; und sie malte sich, während ich sie wenigstens so intensiv betrachtete wie sie mich, eine Menge Ängste und Hemmungen vom Leibe.

Natürlich kehrt man aus einer solchen Situation in den Alltag zurück und zieht sich mit den Kleidern auch wieder einen Teil der alten Komplexe an. Als ich einige Wochen später in der Abschlussausstellung die Bilder sah, ging es für uns beide nicht ohne ein Erröten ab. Da waren die Flasche und der Apfel und natürlich ich in verschiedenen Posen auf und vor dem Sessel.

Sie war sehr gelobt worden – gerade für diese Serie. Und das lag wohl daran, dass das, was geschehen war mit uns beiden, auf den Bildern zwar nicht dargestellt, aber doch als Stimmung anwesend und deutlich spürbar war: Erleichterung, Leichtigkeit – eine große innere Befreiung.

Es waren lebensfrohe Bilder, und ich denke gern an sie zurück, wohl auch, weil sie mich daran erinnern, dass es beim Entstehen eines Kunstwerks immer auch ein wenig um Überwindung geht: Barrieren in sich niederzureißen und der eigenen Blöße zu begegnen.

Gelogen hat die Malerin nicht für mich. Auf einem der Bilder war ich en face zu sehen, und wie es sich für ein ehrliches Porträt gehört, blickte mein ungeliebtes Auge scharf nach rechts. Nur wirkte es keineswegs blind oder gar tot. Nein, es leuchtete geradezu und blickte lebhaft und liebevoll auf etwas oder jemanden außerhalb des Bildes, von dem eine ungeheure Faszination ausgehen musste. Was es war, wusste nur das Modell. Dem Blick des Betrachters blieb es verborgen.