Tausende von Metern Wasser zum Schwimmen

BEGEGNUNGEN Wie der Werwolf einmal seine Cola mit den Zeugen Jehovas teilte und darüber nachdachte, in einem Pool zu leben, als Kaulquappe

■ Stationen: Busqued wurde 1970 in der nordargentinischen Provinz Chaco geboren und lebt heute in Buenos Aires. Er produziert die Radioprogramme „Vidas Ejemplares“ (Vorbildliche Leben), „El Otoño en Pekín“ (Herbst in Peking) und „Prisonero del Planeta Infierno“ (Häftling des Höllenplaneten) und schreibt für das Magazin El Ojo Con Dientes (Das Auge mit Zähnen). „Unter dieser furchterregenden Sonne“ (Kunstmann) ist sein erster Roman.

■ Silvester: „Wie feiern Sie?“ – „In der Silvesternacht bin ich sehr wahrscheinlich mit ein paar Freunden auf einer Farm in der Nähe von Buenos Aires.“ Foto: privat

VON CARLOS BUSQUED

Aus einem Gefühl des Anstands heraus blieb der Werwolf an der Tür seines Hauses stehen, während seine Frau ins Auto stieg und losfuhr. Er blieb dort stehen, während das Auto den kleinen Weg hinausfuhr und sich zwischen den Bäumen verlor. Er betrat das Haus und setzte sich auf das Sofa im Wohnzimmer, den Ventilator direkt auf sich gerichtet. Es war ein stickiger Nachmittag Ende Januar und er hatte sich mit seiner Frau gestritten. Es war ein ziemlich langer Streit gewesen, mehrere Stunden. Er war geistig erschöpft, nichts war ihm mehr wichtig, weder seine Frau noch die Diskussion und das einzige, was er spürte, war die klare Erleichterung des Alleinseins und der Stille. Er machte lange und vorsichtige Dehnbewegungen, um die Muskeln des Rückens und des Nackens, die vor Steifheit schmerzten, zu entspannen. Er stützte den Nacken an der Rückenlehne des Sofas ab und verbrachte einige Momente damit, Details an der Zimmerdecke zu betrachten (schwache Unterschiede in den Farbschichten, eigensinnig geometrische Risse der Anpassung), und dann schlief er fast sofort ein.

In dieser Zeit lebten der Werwolf und seine Frau auf dem Land, in einer Gegend mit Farmen und Hühnerzuchtbetrieben. Das Haus war ziemlich heruntergekommen, aber sie zahlten sehr wenig Miete und außerdem lag es mitten in einem Park von fünfhundert Quadratmetern, was ein großer Pluspunkt war. An der Seite des Hauses gab es ein verlassenes Schwimmbecken, das ziemlich groß war (mehr als 15 Meter lang). Die Nachbarn nutzten es (ein paar Jungs, halbe Hippies, die eine Art gemeinschaftlicher Farm hatten) als Depot für Wasser für ihre Felder. Das Wasser kam über Kanäle von einem Staubecken und brachte Krabben, kleine Meerbrassen und Kaulquappen mit. Viele Tiere, die zum Trinken kamen, fielen in das Becken und kamen nicht mehr heraus. Ratten, Leguane, Schafe (einige ziemlich groß, fast einen Meter lang), und sogar Katzen und zwei Hunde. Der Werwolf hatte in dieser Phase viel freie Zeit und verbrachte die Morgen damit, Joints zu rauchen, Steely Dan zu hören und mit einem Netz um das Becken zu laufen, um immer irgendein Viech zu retten. Es gab auch Wasserkäfer, die sehr schnell schwammen. Oder die Frösche: Generationen von Fröschen, die nie aus dem Becken herauskamen. Solange sie Kaulquappen waren, machte das nichts, aber als sie anfingen, Erwachsene zu werden, konnten sie sich an nichts mehr festhalten. Es blieb ihnen also nichts anderes übrig, als ununterbrochen zu schwimmen, um nicht zu ertrinken. Sie schwammen und schwammen bis zur Erschöpfung und schlussendlich ertranken sie. Sie gingen unter wie Leonardo DiCaprio in „Titanic“, aber langsamer. Es dauerte Tage, bis sie am Grund verschwanden. Dutzende von untergegangenen Fröschen in verschiedenen Tiefen, je nachdem, wie lange sie schon tot waren.

Geruch nach wieder erwärmtem Kupfer. Der typische Geruch eines elektrischen Motors, der gerade zugrunde gegangen ist. Der Werwolf öffnete die Augen und drehte den Kopf. Der Propeller des Ventilators drehte sich sterbend langsam. Die Anzeige des Fernseher blinkte, der Bildschirm nahm für einen Moment einen hellblau-geisterhaften Schein an und ging wieder aus. Es dauerte einen Moment, bis er begriff: Während er schlief, hatte es einen Kurzschluss gegeben. Er lief durchs Haus, um Schäden zu finden. In der Küche lief der Kühlschrank nicht, in regelmäßigen Abständen hörte man das Schnappen seines Motors, der versuchte anzuspringen, ohne es zu schaffen. Der Stecker der Musikanlage war nicht eingestöpselt, also hatte sie überlebt. Genauso war es mit dem Fernseher im Schlafzimmer. Er schaltete eine Lampe an, die Spannung war sehr niedrig. Er ging zu den Generatoren und schaltete sie hoch. Es blieb absolut still. Seine Stimmung war brackig und breiig. In der Küche ließ er sich am Spülbecken Wasser über den Kopf laufen. Aus einer Ecke oben im Bücherregal holte er eine kleine Dose. Er öffnete sie und holte einen halbgerauchten Joint heraus.

Er ging hinaus in den Park und setzte sich zum Rauchen an den Beckenrand, auf den Sockel eines Trampolins, das es mal gegeben hatte, aber jetzt nicht mehr da war. Genauso, wie man nach einer Weile in der Dunkelheit sehen kann, füllte sich jetzt die Stille nach und nach mit Geräuschen: Ein kleines Tier bewegt sich im Gras, die Meerbrassen balgen sich an der Wasseroberfläche. Sie machen Geräusche wie die Wasserkäfer, die sehr schnell schwammen. Er begann über die Käfer nachzudenken, darüber, wie sie dieses Becken sehen mögen. Er stellte sich vor, zwei Zentimeter lang zu sein und sein ganzes Leben darin zu verbringen: das Becken als eine riesige Welt. Die beeindruckenden Wände mit sich abschälender hellblauer Farbe. Das Wasser. Aus Sicht eines dieser kleinen Insekten tausende von Metern Wasser zum Schwimmen. Die toten Frösche, die wie riesige Tropfen eines langsamen Regens hinabfallen, wie Eisberge zu erforschen.

Sie fragten ihn, ob er an Gott glaube. Der Werwolf sagte, das sei ein sehr kompliziertes Thema

Ein Klatschen holte ihn aus seinen Unterwassergedanken. Es kam vom Hauseingang. Er stand auf, um zu öffnen. Es war ein Paar mit zwei Jungen unter zehn Jahren. Sie klatschten und drehten die Köpfe, um die Bewohner des Hauses zu suchen. Sie waren sehr ordentlich gekleidet, mit alter und hässlicher Kleidung, aber sauber und gebügelt. Alle vier trugen Sakkos und hatten eine Art Mappe bei sich. Ganz offensichtlich waren sie Zeugen Jehovas. Der Werwolf grüßte. Er hatte überhaupt keine Lust zu reden, aber diese Leute gefielen ihm: Mit ihrer besten Kleidung und in dieser Hitze liefen sie zu Fuß die langen Wege zwischen den Farmen und einsamen Häusern, um mit den Menschen zu reden, die sie meist unfreundliche behandelten. Er bot ihnen Coca-Cola an, sie nahmen gerne an. Sie fragten ihn, ob er an Gott glaube. Der Werwolf sagte, das sei ein sehr kompliziertes Thema. Die Frau fragte, ob er die Bibel lese. Der Werwolf sagte freundlich, dass er nicht reden wolle, sie aber einlade, sich zu erfrischen, da sie sehr müde sein müssten. Der Mann sagte, das sei richtig. Sie bedankten sich und beharrten nicht weiter auf dem religiösen Thema. Kurz wurden Höflichkeiten ausgetauscht, dann hinterließen sie ihm ein Neues Testament als Geschenk. Die Jungs waren sehr gut erzogen; während die Erwachsenen redeten, tranken sie ihre Cola schlückchenweise und schauten sich gegenseitig an. Als die Leute gingen (die Frau küsste den Werwolf auf die Wange und sagte „seien Sie gut“), schaltete er die Generatoren hoch und teste den Strom. Die Spannung war auf einmal wieder normal. Den Rest des Nachmittags lag er auf dem Bett, schwitzte wegen der Hitze und schaute Filme im Kabelfernsehen.

Am Abend servierte er sich ein großes Glas Whisky und ging nach draußen. Unzählige Leuchtwürmer blinkten in der Dunkelheit. Er dachte an seine Frau: Ob er sie in irgendetwas kannte, sie war nicht für immer gegangen, sie würde irgendwann zurückkommen, um ihm auf die Eier zu gehen. Er hoffte, dass sie nicht so bald zurückkomme und ihm wenigstens eine Woche Alleinsein ließ. Der nächste Tag war ein Montag. Er musste raus, einen Kühlschrank kaufen. Er dachte auch, dass er sich am besten ein Planschbecken kaufte. Er träumte von der Idee, in einem Becken zu treiben. Mit einem Schnorchel könnte er bäuchlings treiben, ohne die geringste Anstrengung, befreit von der Schwerkraft. Er dachte, zum Glück ist die Musikanlage nicht kaputt. Er könnte sie nach draußen holen und Musik hören, während er auf dem Wasser trieb. Er bedauerte, dass er kein Radio, hatte mit dem er ausländische Sender empfangen könnte: Es hätte ihm gefallen, bäuchlings auf dem Wasser zu treiben wie ein Baumstamm, der sich kaum an der Oberfläche abzeichnet, und dabei Radiosprechern zuhören, die Nachrichten vorlasen, die ihn nicht im Geringsten betrafen.

Aus dem Spanischen von Frauke Böger