Rechte Lebenslügen

RECHTE Die drei Mythen der deutschen Rechten in Sachen Einwanderung und Integration

Wir brauchen eine Orientierungskultur, die von einer politischen Definition lebt, nicht von einer kulturellen

VON DANIEL COHN-BENDIT

Erstens: Multikulti war eine Antwort. Der Begriff umriss nie den Entwurf einer neuen Gesellschaft, sondern war die Antwort auf die Verweigerung der Konservativen und der Sozialdemokraten bis in die Neunzigerjahre, die Realität der Einwanderungsgesellschaft anzuerkennen. Der entscheidende Mann für die multikulturelle Gesellschaft war Ludwig Erhardt, CDU. Als Arbeits- und Wirtschaftsminister hat er in den Fünfzigern gegen CDU, SPD und Gewerkschaften die Anwerbung von Arbeitskräften aus dem Ausland durchgesetzt. In den Sechzigern war man froh, Türken anzuwerben, denen man unterstellte, anders als Italienern, keine politischen Unruhestifter zu sein. Nur: Mit den Türken, den Menschen aus Bosnien oder dem Maghreb wanderte auch der Islam nach Deutschland ein.

Wer sagt, Multikulti sei gescheitert, redet Unsinn. Woran wir tragen, sind die Folgen einer Einwanderungspolitik, die nie eine sein sollte. Wenn man aber eine Einwanderungsgesellschaft wie die unsrige hat, muss man sich Gedanken machen: Wie funktionieren unsere Schulen, wie funktionieren überhaupt unsere sozialen Organisationen, wenn Deutschland ein Land mit Eingewanderten ist?

Um nicht um den heißen Brei herumzureden: Erst als die SPD sich auf Druck der Grünen einem neuen Staatsbürgerrecht zuwandte, änderte sich etwas. Immerhin: Das Blutsrecht gilt nicht mehr. Man muss ja lachen, wenn Konservative hell empört sind, dass Mesut Özil von Türken beim Länderspiel in Berlin ausgepfiffen wird, weil er für Deutschland spielt. Wenn es nach der CDU und CSU gegangen wäre, könnte ein Spieler mit türkischem Hintergrund noch heute nicht in einer deutschen Nationalmannschaft spielen. Pharisäer aller Länder, vereinigt euch!

Zweitens: Das Asylgesetz zu ändern war richtig. Aber zugleich wurde kein Einwanderungsgesetz geschaffen. Eines solchen hätte es bedurft. Das Recht auf politisches Asyl konnte nicht weiter für eine moderne Einwanderungspolitik missbraucht werden. Die Problematik, mit der wir uns heute beschäftigen müssen, ist ein Ergebnis dieser politischen Fehlentwicklung.

Was uns fehlt, ist eine Kritik des eigenen Hochmuts. Wir brauchen keine Kultur, die insgeheim die Zwangsmodernisierung von Menschen lobpreist. Das ging schon in der Türkei schief – dort hat Kemal Atatürk Anfang des 20. Jahrhunderts versucht, sein Land von „Rückständigkeiten“ zu befreien. Erzwungene Veränderung ergibt jedoch totalitäre Systeme, wie die Türkei nach dem Militärputsch 1980 oder der Iran nach dem Putsch 1953 und die Machtübernahme des Schahs.

Die Kritik an Muslimen lebt häufig von der Verachtung, dass viele Einwanderer diese Modernität nicht leben wollen oder können. Wir verkennen dabei, dass das, was heute als natürliche Leitkultur gilt, in den Fünfzigern bei uns noch vollkommen verpönt war. Offen lebende Schwule? Frauen, die einen eigenen, vom Mann unabhängigen Kopf haben? Kinder, die frei aufwachsen? Das wäre in Deutschland der Nachkriegszeit unmöglich gewesen – alle Fortschritte sind beinhart errungen worden. Diese Konflikte finden heute mit der gleichen Härte in den Immigrantencommunitys statt. In dieser Debatte kann es für uns keinen Kulturrelativismus geben. Wir müssen die Verbündeten in den jeweiligen Communitys unterstützen und somit eine „Sie gegen uns“-Situation verhindern.

Drittens: Wir brauchen eine Orientierungs-, keine Leitkultur. Diese muss von einer politischen Definition leben, nicht von einer kulturellen. Mit einer politischen Definition lassen sich Debatten führen. Aber die Linien dieser Diskurse können nicht so gezogen werden, als sei das Muslimische an sich unfähig, sich in ein säkulares Gemeinwesen zu integrieren. Es stimmt, dass Einwanderer unsere Sozialsysteme ausbeuten wollen. Ebenso, dass es viele Menschen aus Mittelschichten oder aus der Oberschicht gibt, die unser System schröpfen, indem sie Steuern hinterziehen. Steuerhinterziehung und Einwanderung in Sozialsysteme sind zwei Seiten einer Münze, nämlich die Schwächung des Gemeinwesens. Solange die Debatte nur um die Schwachen geht, geht die von Thilo Sarrazin befeuerte Debatte in die Irre.

Man kann Multikulti leugnen, aber nicht aus der Welt schaffen. Einwanderung bedeutet Ungleichzeitigkeit. Ich plädiere für einen Gesellschaftsvertrag, der Abschied nimmt von der Idee, die deutsche Gesellschaft könnte wieder so werden, wie sie vor 30 Jahren war, und ich wünsche mir, dass das heutige Deutschland all denjenigen gehört, die heute hier leben.

Daniel Cohn-Bendit, 65, ist Europaabgeordneter der Grünen