„Ich mache weiter, nur ohne Amt“

LINKS Oskar Lafontaine über Rache an der SPD, das Gefühl, wie ein Boxer mit weichen Knien wieder in den Ring steigen zu müssen und seine Rolle in der Linkspartei

■ Der Mensch: Oskar Lafontaine, geboren 1943 in Saarlouis, ist der Sohn einer Sekretärin und eines Bäckers. Der Diplomphysiker ist in dritter Ehe mit der Politikerin Christa Müller verheiratet.

■ Der Politiker: 1976 wurde Lafontaine in Saarbrücken Deutschlands jüngster Oberbürgermeister, 1985 jüngster Ministerpräsident. 1990 war er SPD-Kanzlerkandidat, im April desselben Jahres wurde er im Wahlkampf von einer Zuschauerin mit einem Messer schwer verletzt. 1995 eroberte er auf dem Mannheimer Parteitag den Parteivorsitz. 1998 wurde er im Kabinett von Kanzler Gerhard Schröder Finanzminister, wenige Monate später trat er von allen Ämtern zurück und aus der SPD aus. 2005 hat er die Linkspartei mit gegründet, bis 2010 war er deren Partei- und Fraktionschef. Wegen einer Krebserkrankung zog er sich 2010 nach Saarbrücken zurück.

INTERVIEW STEFAN REINECKE

Oskar Lafontaine geht über die Saar. Die Alte Brücke verbindet den saarländischen Landtag mit dem St. Johanner Markt. Er grüßt und schüttelt Hände. Man kennt ihn, er war elf Jahre Bürgermeister in Saarbrücken, 13 Jahre SPD-Ministerpräsident. Die Alte Brücke, erzählt Lafontaine, „hat Karl V. gebaut“, in den 70er Jahren gab es Pläne, sie abzureißen. Das habe er damals verhindern können. Der St. Johanner Markt ist seither wieder das Herz Saarbrückens. Das sei nicht sein Werk gewesen, sagt Lafontaine, aber er habe es politisch möglich gemacht. Es klingt stolz.

taz: Herr Lafontaine, wie viel Zeit verbringen Sie hier in Saarbrücken noch mit der Politik?

Oskar Lafontaine: Eigentlich den ganzen Tag. Ich bin ein politischer Mensch.

Sie sind kein Parteichef, kein Fraktionschef in Berlin mehr. Sie sind doch den 18-Stunden-Tag des Spitzenpolitikers los.

Der 18-Stunden-Tag von Politikern ist oft eine Übertreibung. Ich mache meine Arbeit im Landtag und übernehme in der Bundespolitik Termine. Aber freiwillig, da ich keine Funktion auf Bundesebene habe.

Und was machen Sie mit Ihrer neuen Freiheit?

Damit habe ich kein Problem, Sport, spazieren gehen, Fachbücher lesen, auch Belletristik. Genau das Gleiche wollten viele Journalisten schon nach dem Rücktritt 1999 wissen: Was machen Sie denn jetzt? Ich habe mich das nie gefragt, weil ich immer was zu tun hatte.

Damals, 1999, waren Sie Bundesfinanzminister und SPD-Vorsitzender, eine Schlüsselfigur der deutschen Politik. Und dann haben Sie plötzlich hingeschmissen. Sind Sie danach nicht in ein Loch gefallen?

Nicht in dem Sinne, dass ich plötzlich nichts mit mir anzufangen wusste. Belastet hat mich damals etwas ganz anderes.

Nämlich?

Ich habe erkannt, dass ich einen schweren Fehler gemacht hatte, weil ich Gerhard Schröder die Kanzlerkandidatur überlassen habe. Das hat die deutsche Politik entscheidend verändert.

Sie hätten Schröder als Kanzler verhindern können?

Es ist ein ungeschriebenes Gesetz, dass der SPD-Vorsitzende Kanzlerkandidat wird, wenn er will. Ich war die Nummer eins in der Partei. Schröder sieht das auch so. Er hat auch nie verstanden, warum ich ihm den Vortritt gelassen habe. Schröder hatte damals die besseren Chancen, die Unterstützung von Bild bis Spiegel, darum habe ich ihm die Kanzlerkandidatur überlassen.

Was wollten Sie?

Die Partei sollte endlich nach 16 Jahren Kohl an die Macht kommen, um den Abbau des Sozialstaates zu stoppen. Diesem Ziel habe ich alles untergeordnet. Ich wollte nicht derjenige sein, der wegen persönlicher Ambitionen den Wahlsieg vergeigt. Heiner Geißler hat mir später gesagt, dass ich auch gewonnen hätte, weil die Zeit für den Wechsel einfach reif war.

Sie ärgern sich, dass Sie damals nicht Kanzler geworden sind?

Ich ärgere mich über das, was aus dem Wahlsieg geworden ist: Jugoslawienkrieg, Afghanistankrieg, Agenda 2010 und Hartz IV. Wir hatten uns 1998 auf ein sozialdemokratisches Programm geeinigt, von dem nach meinem Rücktritt nichts mehr übrig geblieben ist. Schröder hat zudem meine Absicht, die internationalen Finanzmärkte zu regulieren, unterlaufen.

Fühlen Sie sich von Gerhard Schröder verraten?

Wir haben 1998 abgemacht, dass er Kanzlerkandidat wird, wir aber alle Entscheidungen gemeinsam treffen. Daran hat er sich nicht mehr gehalten, sobald er Kandidat war.

Wären Sie nicht gern Bundeskanzler geworden?

Nicht wegen des Glanzes, der mit diesem Amt verbunden ist. Aber um die Politik umzusetzen, die ich für richtig hielt, ja. Ich habe zum Beispiel auch nie verstanden, warum die SPD von 2005 bis 2009 mit uns und den Grünen nicht regieren wollte. Wir hätten den Mindestlohn durchsetzen können, die Zumutbarkeitsregeln bei Hartz IV ändern, bei der Rente wenigstens zwei Dämpfungsfaktoren beseitigen und die Bundeswehr aus Afghanistan zurückziehen können. Nur das interessiert mich, nicht die Glorie eines Regierungsamtes.

Würden Sie gerne noch mal mit Schröder reden?

Ach, das werde ich oft gefragt. Politisch sind wir konträrer Ansicht. Worüber sollen wir reden? Über Alltagskram?

1999 war es klar, dass Schröder gewonnen und Sie verloren hatten. Und 2011?

Dass ich 2005 mit der Linken wieder angetreten bin, hatte auch etwas mit Schröder zu tun. Ich wollte, dass er nicht mehr Kanzler wird.

Also Rache?

Rache ist immer blind. Nur um Schröder eins auszuwischen, hätte ich mich nicht wieder politisch engagiert. Natürlich gab es persönliche Konkurrenz zwischen uns. Ich fand aber vor allem, dass er mit seiner Agenda- und Kriegspolitik die politische Linke so sehr diskreditiert hat, dass er nicht weiter Bundeskanzler sein sollte.

Sie haben zu Beginn Ihrer Karriere als Oberbürgermeister in Saarbrücken 1976 viel gestaltet. Was zum Beispiel?

Den St. Johanner Markt. Hier war vorher eine Hauptverkehrsstraße, jetzt ist diese Fußgängerzone das Zentrum von Saarbrücken. An Sommerabenden hat es etwas von einem Platz in einer italienischen Stadt. Auch das Gasthaus „Der Stiefel“, in dem wir hier sind, war damals verfallen und wurde nur renoviert, weil es mit dem Umfeld aufwärts ging.

Später haben Sie nicht mehr gestaltet, sondern verhindert.

Als Oberbürgermeister ist es einfacher, Bleibendes auf den Weg zu bringen. Als Ministerpräsident nahm das etwas ab, aber wir haben mit Saarstahl die Stahlindustrie neu geformt, und wir haben die Informatik an der Universität zu einer Musterabteilung aufgebaut. Auf Bundesebene ist das politische Handeln weniger greifbar.

Sie haben 1995 Scharping weggeputscht, Kohl gestürzt, auch wegen der Blockade im Bundesrat, die Sie von 1995 bis 1998 organisiert haben. Die Linkspartei will Opposition sein, vom Gestalten ist nichts geblieben.

Das habe ich auch gelesen: Lafontaine sei nur für Opposition zu gebrauchen. Das ist falsch. Ich habe als Oberbürgermeister und Ministerpräsident, aber auch in der Opposition einiges bewirkt.

Worauf sind Sie am meisten stolz?

Schwer zu sagen. Wenn ich abends am St. Johanner Markt sitze, denk ich: Das ist was Handfestes. Für Saarstahl gilt das auch. Und für die Gründung der Linkspartei. Die war unvermeidlich.

Warum?

Weil es um die Erneuerung der gesamten Linken geht, einschließlich SPD und Grünen. Das war und ist das Ziel – so viel Druck zu machen, dass SPD und Grüne sich ändern.

Waren Sie damit erfolgreich?

Leider nur in bescheidenem Umfang. Die deutsche Linke hat sich im neoliberalen Gestrüpp verheddert. Das reicht bis in die Gewerkschaften hinein. Die Linkspartei wurde auch gegründet, um die neoliberale Politik zu stoppen.

Ist die SPD Ihre Hauptgegnerin?

Ich will nicht die CDU oder die FDP verändern, sondern die Politik der SPD, Agenda 2010, Hartz IV und Bundeswehreinsätze. Krieg ist kein Mittel der Politik.

Sie halten den Reformern im Osten gern vor, zu nachgiebig zu sein. Die Saar-Linkspartei stützt jetzt eine Verfassungsänderung zur Schulreform der Jamaika-Regierung – ohne die SPD. Nicht sehr prinzipienfest.

Doch, CDU und FDP schäumen, weil wir die Verfassungsänderung für die Gemeinschaftsschule unterstützen. Sie hatten gehofft, dass es dafür keine Mehrheit gäbe. Die Saar-Linke hatte die Gemeinschaftsschule im Wahlprogramm, da wäre es absurd, jetzt dagegen zu stimmen.

Die Saar-SPD hält das für einen Showeffekt. Macht Ihnen Politik als Spiel Spaß?

Na ja, es ist schön, dass CDU und FDP sich hier so verkalkuliert haben. Das Entscheidende ist aber: Wir haben künftig statt fünf nur noch zwei Schulformen in der Verfassung: Gymnasium und die Gemeinschaftsschule. Das eröffnet den Kindern doch die Möglichkeit für längeres gemeinsames Lernen, wenn linke Parteien regieren.

Reden wir über die Linkspartei. Sie setzt auf die Gewerkschaften, auf Ver.di, Industriearbeiter. Verschläft sie nicht, dass es längst neue Arbeitsverhältnisse gibt, prekäre kreative Jobs?

In Ihrer Frage ist mir zu viel Boheme-Romantik. Wir wollen die prekären Jobs überwinden.

Muss die Linkspartei nicht auch für Leute mit solchen Jobs attraktiv sein?

Doch, aber nicht indem man ihre Situation schönredet, sondern indem man sie verbessert.

Aber diese Jobs sind nicht nur soziales Elend, sondern mehr Freiheit. Dass Vater dreißig Jahre lang von acht bis vier in dieselbe Firma geht, ist eben nicht mehr die Norm.

Die prekären Arbeitsverhältnisse sind für mich, im Sinne von Bourdieu, Scheinfreiheiten, sie führen zu Freiheitsverlusten. Wer sein Leben nicht planen kann und nicht weiß, ob er am Ende des Monats noch Geld für Milch hat, ist nicht frei. Mit einem 400-Euro-Job können Sie keine Familie gründen.

Bei der Linkspartei hat man den Eindruck, dass die Antwort immer lautet: Mehr Staat.

Heute auf jeden Fall.

Viel Staat hilft viel?

Nach der neoliberalen Privatisierungsorgie: ja. Deregulierung geht immer zu Lasten der Schwächeren, zur Regulierung brauchen wir den Staat. Und mehr Gemeinschaftseigentum. Auch unter ökologischem Gesichtspunkt ist Gemeinschaftseigentum besser als privates. Das hat die Ökonomin Elinor Ostrom in Studien nachgewiesen und dafür den Nobelpreis bekommen.

Aber Ostrom beschreibt die Selbstregulierung von Kollektiven, keinen Staatseingriff.

Ja, und genau das muss die Linkspartei in die Politik hineintragen. Da gibt es geschichtliche Vorbilder, von den Arbeiter- und Soldatenräten in der Novemberrevolution bis zur Arbeiterselbstverwaltung in Jugoslawien. Der bürokratische Moloch der DDR gehört nicht dazu. Wir wollen Selbstregulierung und Gemeinschaftseigentum wieder populär machen. Deshalb sollen die Belegschaften an den Betrieben beteiligt werden. Eigentum entsteht durch Arbeit. Das große Industrievermögen gehört den Belegschaften und nicht den Piëchs, Quandts oder Schaefflers.

Und was ist mit dem Markt?

Der Markt ist ein Element der Freiheit.

Was nervt Sie eigentlich an den Ostlern in ihrer Partei?

An den Ostlern nervt mich gar nichts. Es gibt einige aufstrebende Genossen, die sehr pragmatisch sind und schnell Kompromisse machen.

Mit neoliberalem Zeitgeist?

Bei einigen zurückliegenden Entscheidungen, Stichwort Privatisierung von Wohnungen, habe ich das so gesehen. Aber das ist jetzt geklärt.

Viele Linke wie Sie hatten doch 1989 eine emotionale Distanz zur DDR – und noch mehr zu Deutschland als Nation. Ältere, wie Willy Brandt, sahen das anders. Hatte Willy Brandt Recht – und Sie Unrecht?

Ich hatte eine emotionale Beziehung zur DDR. Ich habe Städtepartnerschaften, Jugend- und Sportleraustausche auf den Weg gebracht. Nur: 1990 hat man mich in die Ecke des Vereinigungsgegners gestellt, weil ich gegen die schnelle Währungsunion war, die die DDR-Industrie mit einem Schlag konkurrenzunfähig gemacht hat.

Haben Sie sich nicht selbst in diese Ecke gestellt?

Ich war nach dem Attentat sehr geschwächt und habe den richtigen Ton nicht mehr getroffen.

Im April 1990 hat eine Attentäterin Sie mit einem Messer lebensgefährlich verletzt. War es falsch, dass Sie danach Kanzlerkandidat geblieben sind?

Es hat mir ja keiner die Aufgabe abgenommen. Ich wollte nicht mehr. Aber es gab in der SPD niemanden, der die Kandidatur übernehmen wollte.

Sie haben aus Pflichtgefühl weitergemacht?

Ja.

Hatten Sie damals im Wahlkampf Angst?

Es ging mir wie einem Boxer, der mit weichen Knien wieder in den Ring steigen muss.

Hatten Sie Angst?

Ja, besonders wenn das Gedränge sehr groß war. Ich war als Wahlkämpfer blockiert.

Trotzdem, die postnationale Achtundsechziger-Linke lag 1990 mit ihrer Skepsis der Nation gegenüber falsch, Willy Brandt richtig. Oder?

Na ja, später hat man mir auch schon mal nationale Anwandlungen unterstellt.

Hatte Brandt damals Recht?

Willy Brandt hat 1989 eine Rede auf dem SPD-Parteitag gehalten. Danach kam er zu mir und fragte: „War dir das zu national?“ Und ich antwortete ihm: „Ja.“ Weil ich auf der französischen Grenze geboren bin und die europäische Einigung will, nicht nur die deutsche.

Also war das Bild von Ihnen als Vereinigungsgegner falsch?

Eindeutig ja. Ich war doch gerade wegen der Leute im Osten gegen die Eins-zu-eins-Währungsunion. Weil klar war, dass sie arbeitslos werden. Willy Brandt sagte zu mir: „Unsere Landsleute müssen auch im Urlaub nach Mallorca fahren können.“ Ich antwortete: „Den gönne ich ihnen. Aber vor allem müssen sie ihre Arbeitsplätze behalten.“

Ist Ihr Abschied von der Bundespolitik eigentlich endgültig?

Ich mache doch weiter mit, nur ohne Amt.

Sie telefonieren fast täglich mit Gysi, Ernst und Lötzsch.

Das ist doch normal, oder?

Und wenn es drauf ankommt, wie bei der Bundespräsidentenwahl 2010, sind Sie sowieso der Wortführer für die Linkspartei. Auch ohne Amt.

Ich bin nicht der heimliche Vorsitzende der Linkspartei, wenn Sie darauf hinauswollen. Das ist auch so eine Legende.

Nicht?

Wenn man mich braucht, bin ich da. Zum Beispiel im Wahlkampf in Hamburg. Da durften wir nicht einbrechen.

In Hamburg sind alle Kameras auf Sie gerichtet, der Vorsitzende Klaus Ernst steht nebendran und redet mit einem Rentner. Da fragt sich schon: Wer ist hier der Chef?

Das ist ein Problem. Aber gerade Klaus Ernst will, dass ich in den Wahlkämpfen wieder mitmache.

Reden Sie mit Klaus Ernst über Ihre gemeinsamen Auftritte?

Ja, sicher. Wir reden offen darüber. Klaus Ernst sagt: „Ich weiß, dass die Medien eher auf dich abfahren. Aber das ist mir egal, deine Auftritte sind wichtig für die Partei.“

Ihr Weggefährte Charly Lehnert, der einige von Ihren Wahlkämpfen organisierte, hat gesagt: „Dem Oskar brennt es bald wieder unter den Fußsohlen.“

(lacht) Ach ja.

Brennt es schon?

Ich befinde mich doch in einer komfortablen Situation. Ich kann mich einmischen, wenn ich will, habe aber nicht mehr diese Zwangsjacke, jeden Tag in Berlin sein zu müssen.

Finden Sie das befreiend?

Ja.

Sehen Sie Ihre Krebserkrankung als Zeichen dafür, zu rabiat mit Ihrem Körper und Ihrer Gesundheit umgegangen zu sein?

Raubbau am Körper ist unvermeidlich, wenn man Politik macht. Ich habe bis zur Krebserkrankung viel Sport gemacht und gegengesteuert.

„Die ständige Medienpräsenz von Politikern führt zu narzisstischen Verhaltensweisen“ – wer hat das geschrieben?

Das könnte von mir sein.

Von 1999. Kennen Sie diese déformation professionelle von sich selbst?

Natürlich. Die Bewältigung beginnt ja damit, das wahrzunehmen – nicht bei den anderen, das ist einfach, sondern bei sich selbst.

Woran haben Sie das bei sich gemerkt?

An vielem. Wenn Sie auf der Bühne stehen, wollen Sie den Beifall und schielen manchmal zu sehr auf die Galerie.

Hat sich Ihr Verhältnis zur Berühmtheit verändert?

Ja, sicher. Als ich jung war, war ich stolz, von Kameras und Blitzlichtgewitter umgeben zu sein. Das ist heute nicht mehr so.

Warum?

Weil es einem nach einer Zeit auf die Nerven geht. Es gehört zum Geschäft, aber es nervt.

Es schmeichelt nicht mehr Ihrer Eitelkeit, wenn 500 Leute jubeln und die Kameras angehen?

Nein, darüber bin ich weg.

Sie fühlen sich nicht besser?

Ich bin zufrieden, wenn die Wahlkampfveranstaltung ein Erfolg war.

Wann hat die Fixierung auf Aufmerksamkeit aufgehört?

Schon 1990, bei der Kanzlerkandidatur. Journalisten denken: Politiker sind so unbedarft und eitel, die können damit nie aufhören. Glauben Sie mir, das stimmt nicht. Es ist irgendwann einfach zu viel.

Der Autor Jürgen Leinemann meint, Aufmerksamkeit sei für die meisten Politiker eine Droge. Wie fühlt man sich denn so auf Entzug?

Ich mach doch wieder Politik …

also auf halbem Entzug.

Solange man glaubt, dass Beachtung das höchste Glück ist, solange hat Leinemann Recht. Aber ich brauche nicht jeden Tag das Bad in der Menge, ich mache nicht Wahlkampf in Rheinland-Pfalz oder Baden-Württemberg, um beklatscht zu werden.

Sie müssen sich selbst überreden, dorthin zu fahren?

Ja, es entsteht eine innere Distanz, wenn man jahrzehntelang Wahlkämpfe macht. Das Rampenlicht wärmt nicht auf Dauer.

Stefan Reinecke, 52, ist taz-Parlamentskorrespondent