Hüte dich vor den Schwachen

NEID Götz Aly beschäftigen in seinem neuen Buch zwei Fragen: Warum die Deutschen? Warum die Juden? Ein Besuch

Die deutschen Protzgesten, auch die eines Adolf Hitler, sieht Götz Aly als Zeichen der Schwäche

VON JAN FEDDERSEN

Vor unserer Verabredung bittet er um Antwort: „Wie soll der Kaffee sein?“ Mit Milch, bitte. Götz Aly sitzt an einem Tisch im Arbeitszimmer, wuchtig und schwarz. Darauf das neue Buch des Historikers: „Warum die Deutschen? Warum die Juden?“ 354 Seiten zu einer der schlichtesten und schwierigsten Frage der Geschichte.

„Haben Sie es gelesen?“, fragt der Autor, um dessen vor drei Jahren erschienene Polemik zur Achtundsechzigerdebatte es viel Streit gab. Ja, danke, und es las sich wie ein Krimi.

Er scheint die Reaktion zu überhören. Warum also die Deutschen? Aly geht, in seinem Arbeitszimmer voller Bücher und Akten, zum frühen 19. Jahrhundert zurück. Deutschland eine weitgehend analphabetische Wüste in Europa, nach dem Dreißigjährigen Krieg religiös zerrissen. Dort, wo Deutschland heute fraglos verortet wird, herrscht Kleinstaaterei. Im Zuge der Französischen Revolution konnten Juden in einzelnen deutschen Staaten Emanzipationsfortschritte erzielen. Sie fanden sich in der moderner werdenden Welt besser zurecht. Sie legten Wert auf Bildung, ihre Religion lebte vom Disput, vom Zweifel. Der Zwang zum reinen Glauben fehlte. Den hegten die christlichen Deutschen

Das, was später mörderischer Antisemitismus wurde, lugte als Neid und Missgunst hervor. Aly hat, sagt er, nochmals die Bücher über Juden von christlich-deutschen Autoren gelesen, auch die von jüdischen Autoren, wie sie das Leben in den deutschen Ländern empfanden. Noch ging es nicht um Nationalsozialistisches, sondern um Stoßseufzer des Hasses auf eine Sorte Menschen, die schneller sich in der modernen, immer weniger ständisch werdenden Zeit zurecht fanden. Die gewitzter waren und schlagfertiger. Aly spottet: Das Übliche der Klischees sei gewesen, zwar den Juden Flinkheit zu attestieren, aber die eigene Trägheit, die Langsamkeit für tief und gründlich auszugeben.

Das deutsch-christliche Desaster, so gesehen, war Ende des 19. Jahrhunderts ein auch fast perfekt literarisiertes Fundament für das Nationalsozialistische: Die christlichen Deutschen als Modernisierungsverlierer, die Juden als jene, die früh Bildung als weltlich nützlichen Wert erkannten und gesellschaftlich aufsteigen konnten. Das Jüdische war noch während der Kaiserzeit Synonym geworden für Kapitalismus, für Ausbeutung. Unter der Hand fiel die rechtliche Emanzipation der jüdischen Deutschen auf sie selbst zurück: Sie schienen zu haben, was anderen fehlte.

Das darf dann gleich als Antwort genommen werden auf die Frage: Warum die Juden? Aly wird bedachtsam. Er sagt: Weil die Industrialisierung in Deutschland so spät einsetzte, weil sie Millionen von Menschen, stärker als in Frankreich oder England, aus ihren ländlichen Verhältnissen in die Manufakturen trieb, war auch der Kampf der Sozialdemokratie um Gleichheit hartnäckiger. Gerechtigkeit und Gleichheit, betont Aly, seien gerade in Deutschland viel wichtigere Werte als Liberalität und Freisinn. Bismarck habe den Liberalismus geopfert, nicht zuletzt um den Forderungen der SPD nach „Volksschutz“ entgegenzukommen. Das deutsche Sozialwesen als Lebensversicherung. Das Jüdische war in jenen Jahren immer mehr das, was den Deutschen fremd sein musste.

Immer bloß Gleichheit

Aber ist das nicht in etwa alles bekannt, Herr Aly? Noch bedächtiger wird sein Sprechen. Nein, es ist vergessen. Der Hang zur Dämonisierung der Vorgeschichte des Nationalsozialismus gewinnt ständig an Terrain. Aly widerspricht der religiösen Überhöhung des Holocaust. Sie erkläre nichts. Die Pointe, so muss man ihn verstehen, ist, dass der Antisemitismus, der in der Weimarer Republik an Lautstärke gewann, auch ein Resultat der Demokratie war. Im Kaiserreich, im Obrigkeitsstaat konnte Judenfeindschaft unter dem Deckel gehalten werden. Das war nun, in demokratischen Zeiten, nicht mehr möglich. Und: In jenen Jahren holten die christlichen Deutschen auf, ihr Bildungs- und Wohlstandsrückstand wurde geringer. Aber der Jude, so Aly, blieb fremd, und mit dem Aufholen nahm der Neid auf die voranstürmenden Juden zu.

Nicht zuletzt, weil in den Wissenschaften, besonders gefördert durch die Deutschen, Theorien zu Erb- und Rassenhygiene populär wurden. Das war der Untergrund, auf dem die Nationalsozialisten ihr Programm durchsetzen konnten. Die Opposition, betont Aly, am Ende der Weimarer Republik gegen die Braunen sei allenfalls am Rande eine gegen Judenfeindschaft gewesen.

Vor vielen Jahren, ehe am Tiergarten das Holocauststelenfeld gebaut wurde, schlug Aly vor, würde man wirklich an die Ermordung der Juden erinnern wollen, müsste man eine Säule des Brandenburger Tores amputieren – als Zeichen, dass da in Deutschland für immer etwas fehlen wird. Statt der „Einheitsschaukel“, die bald als Nationaldenkmal errichtet werden soll, hätte er am liebsten, kirchturmhoch, die Buchstaben eines einzigen Wortes aufgestellt: Freiheit. „Die Deutschen wollten immer nationale und soziale Gleichheit und Gerechtigkeit. Aus Freiheitsangst flüchteten sie in den Kollektivismus. Das ist ihr historisches Problem – bis heute.“

Aly plädiert für Freisinn, der das Fremde nicht abwehrt. Keinen Juden, keinen Muslim.

Aber haben nicht alle nachholenden Gesellschaften dieses Grundmuster von Neid – seitens jener, die nur mühselig den Anschluss an die Moderne schaffen? War es nicht so bei den Türken, als sie auf dem Weg in eine neue Zeit die Armenier töteten? Hängt nicht auch bei den Angriffen von Afroamerikanern auf koreanischstämmige Bürger in Los Angeles Neid in der Luft?

Die deutschen Protzgesten, etwa Hitlers „Deutschland erwache!“, seien Zeichen der Schwäche, nicht der Stärke gewesen. Vor den Schwächeren müsse man sich in Acht nehmen, sagt Aly. Sie seien die Gefährlichen. In sein spannendes, berührendes Buch eingewoben sind auch Partikel aus der eigenen Familiengeschichte – von Angehörigen, die gegen Juden waren oder ihre Diskriminierung billigten. Er sagt: Sie waren kaum anders, als wir es heute sind.