Kampf um Anerkennung

BILDUNG Franz Walter – vom Arbeiterkind zum Professor

VON JAN FEDDERSEN

Feinste Törtchen mit Himbeer- und Erdbeermark stehen auf dem weißen, aufgeräumten Tisch im Büro von Franz Walter in der Göttinger Universität. Dieser Professor ist einer, der gern für andere sorgt. Das mag er von seiner katholischen Mutter und von seinem sozialdemokratisch gesinnten Vater haben, dem Tischler, der später auf dem Schlachthof arbeitete und in der Fabrik. Wenn einer ein Experte ist, der über den Aufstieg vom Arbeiterkind zum Professor sprechen kann, dann dieser Politikwissenschaftler. Wie kann es gelingen, nicht mit bildungsbürgerlichen Meriten versehen zu sein und sich trotzdem auf höheren Schulen und Universitäten zu behaupten?

Franz Walter ist bekannt aus den Medien, aus Talkshows und Podiumsdiskussionen. Ein eher kleiner, wuchtiger Mann mit zotteligem Haar und gemütlichem T-Shirt über der beuligen Jeans. Man könnte nicht nur, man darf ihn stellenweise für prollig halten – „was soll ich dagegen sagen? Ich bin ein Spross der Arbeiterklasse.“ Er kann mitreißend reden, er kann pointieren, schriftlich wie mündlich. „Auf meine Rhetorik kann ich mich immer verlassen“, das sei schon zu Studententagen in Bielefeld so gewesen.

Sein Weg zu einem der renommiertesten Politikanalysten wissenschaftlicher Provenienz, das ergibt schon ein flüchtiger Blick ins Archivmaterial, muss ein zäher gewesen? Franz Walter bejaht. Das tut er, wie er alle Fragen beantwortet: immer etwas körperlich, robust, fast rabaukig. So erzählt er: In den sechziger Jahren, in der Zeit, als die Bildungskatastrophe ausgerufen wurde, bekam auch einer wie er, einer vom Land, die Chance, die höhere Schule zu besuchen. „Ich habe Glück gehabt!“ – Seine Eltern grübelten tagelang, ob das auch in Ordnung gehe, aber die Lehrerin Franz Walters riet ihnen zu. So landete das Kind des Jahrgangs 1956 auf dem Gymnasium im niedersächsischen Bad Pyrmont: „Ein Ort, in dem es üblich war, dass die Eltern der Schüler und Schülerinnen Ärzte waren oder Beamte.“ Kaum jedoch waren dort Schüler wie er, der Plattdeutsch sprechend aufgewachsen ist, der „mir“ und „mich“ nicht zu unterscheiden vermochte, ein Kind, das sich nicht blamieren wollte und nun sagte: „Im Unterricht habe ich nichts gesagt. Aus Scheu wohl, aus Angst.“

Das dumme System

Alles war fremd und unbehaust. Eine wenigstens kleine Chancengleichheit gab es – die Fahrkosten wurden für den Schüler erstattet, auch gab es seitens des Landes Nordrhein-Westfalen Büchergutscheine für Schüler, „mit denen konnte ich mir in der Buchhandlung Lektüren kaufen, die ich meist gar nicht verstand.“ Aber jede Vokabel aus den Bänden des Hauses Suhrkamp – dem stichwortgebenden Verlag jener Jahre – wurde entziffert. „Ich hab mir alles reingefräst.“ Gut in der Schule sei er trotzdem nicht gewesen: „Ich war ständig vom Sitzenbleiben bedroht. Eigentlich hätte ich mit der Mittleren Reife abgehen sollen.“

Dann hörte er auf einer Sitzung mit Schülervertretern, es war die hohe Zeit der Proteste bis ins letzte Klassenzimmer, einen Schülerfunktionär – Michael Wildt hieß er, heute ein renommierter Historiker. „Vielleicht weiß er es gar nicht, vielleicht kennt er mich nicht, jedenfalls, ein Satz von ihm auf dieser Konferenz hat damals mein Schul- und Studierleben verändert.“ Wildt, der jetzt an der Humboldt-Universität in Berlin lehrt, habe nämlich gesagt, viele Schulprobleme lägen am „System“, Lernschwierigkeiten hätten nichts mit persönlichem Versagen oder gar Schuld zu tun. Plötzlich, so sagt nun Franz Walter, hatte er den Schlüssel zu seinem Leben: Nicht er sei dumm, sondern das Bildungssystem mit all seinen Attitüden sei verantwortlich, wenn Schüler ohne Bildungshintergrund zu scheitern drohen. „Ich wurde zum Rebell. Es war ein völliger Wandel, ich hatte plötzlich Chancen.“ Er blieb zwar sitzen, „ich ging damit aber nicht unter“. Ohne einen Stichwortgeber wie Michael Wildt, sagt er, „hätte ich mich als schlecht und unbegabt empfunden“.

Vom Präsidenten gerettet

Das System! Nicht ich! – mit diesem Muster als Angelpunkt seiner Selbsterklärung fand er seine Rolle. Und Franz Walter fügt an: „Da war auf meiner Seite eben auch die Energie, die Kinder von unten haben.“ Nicht unterkriegen lassen, schon gar nicht von Bildungsbürgern. Eine Haltung, die ihm noch heute eigen ist, und sie ist ihm bewusst: „Bevor mir ein Bildungsbürger blöde kommt, gehe ich lieber selbst zur Attacke über.“ Keine Angst – mehr – vor großen Tieren! Tun, was nicht blamiert, nicht sich selbst, nicht die Angehörigen, nicht die Familie.

Nach der Schule ging sein Weg nach Berlin. Politik studieren am Otto-Suhr-Institut. Zur Freien Universität gehört es. „Aber“, so Franz Walter, „wie die Bürgerkinder da von proletarischer Revolution träumten, das ging nicht – die hatten einfach nur ’n Rad ab.“ So hat er es beobachtet und ging deshalb lieber nach Bielefeld, in die als Betonuni verschriene Reformhochschule, wurde Politikwissenschaftler, gestählt als bekennender Sozialdemokrat auf Uni-Vollversammlungen, rhetorisch immer furchtloser.

Der Rest war, guckt man ihn bei Kaffee und Kuchen an und denkt sich den weiteren Weg in dieses schmucke Haus, in dem sein Institut für Demokratie Herberge fand, die reine Kür. Keine Qualen, weil die öde Selbstzweifelei im Grundsätzlichen entfiel. Eigentlich kann er seither machen, was er will. Er ist ein Star geworden in seiner Disziplin – der Parteien- und politischen Mentalitätsforschung. Selbst wenn er hochkomplizierte Inhalte zu erklären sucht, wirkt er wie ein Boxer, der mit dem Rundengong absolut wach auf den Gegner zugeht. Zuletzt hat er, der mit seiner Arbeit in Göttingen abgewickelt werden sollte und letztlich mit Hilfe vom heutigen Bundespräsidenten Christian Wulff nicht nur gerettet, sondern auch aufgewertet wurde, seinen Fight gewonnen – „und manche meiner Mitarbeiter meinen, nichts mehr gewinnen zu wollen sei für mich verkehrt“. Bloß nicht lahm werden? Kämpfen, um seiner Herkunft treu zu bleiben?

Franz Walter sagt unumwunden, dass er sich gelegentlich frage, ob er seinen Look verändern solle, seine drei Kinder – die anders als er nun einen Professor als Vater haben – seien dieser Meinung. Weniger dunkles T-Shirt, mehr Sakko. Jedenfalls müsse er, so sagt er selbst, auf seinen Habitus mehr achten. „Ich bin meiner Herkunft gegenüber immer loyal geblieben. Nie wollte ich verwischen, woher ich komme.“ Aus einem intakten, katholischen Arbeitermilieu, in dem das Körperliche naheliegenderweise mehr gelten musste als das Intellektuelle. „Ich weiß, dass mein Modus geblieben ist. Wenn es zu kämpfen gilt, steh ich bereit.“

Aber, so sagt Franz Walter, „meine prollige Art“ habe ihm ja nicht verwehrt, Grenzen gezeigt zu bekommen. „Rede ich vor Ingenieuren, sind die zuerst befremdet, weil ich nicht im Sakko dastehe, aber dann mögen die mich.“ Anders sei es gewesen, als er mal vor bildungsbürgerlichem Adel in Göttingen sprach – „da fragte mich einer nach Platon oder so – und ich wusste nichts zu erwidern.“ Griechisch kann der Spross vom Land nicht mal? Das ist in gewissen Zirkeln am Ende dann doch nicht gesellschaftsfähig. Sein Talent, den Gegner einzuschätzen, war wertlos geworden: „Ich habe ein intuitives Gespür. Ich rieche den Angstschweiß beim Gegner, wenn ihm irgendwas Probleme macht.“ Aber Kenntnisse der Klassik – wenn die fehlen, nützt kein Kampf mehr. „Auf der Ebene, wenn es um Griechisch oder Latein geht, können die einen immer aushebeln – und das wissen die auch.“

Man lässt Leute zurück

Dennoch: Aufstieg ist Aufstieg. Einer mit Hilfe von Bildung.

Aber ist wirklich nichts auf der Strecke geblieben?

Doch, man lasse Leute zurück. Auch er könne nicht so tun, als sei in seiner urfamiliären Heimat alles wie früher – dort trifft er nämlich jene, die die Bildungschancen nicht nutzten oder nutzen konnten.

Wurden die Leute, die man zurücklässt, mitgenommen?

„Nein, wurden sie nicht.“

Aufstieg, so oder so, funktioniere nicht, wenn es von außen keine Anregungen gebe. Eltern allein sind nicht genug, es braucht LehrerInnen, die an einen glauben, und die auf die spezifischen Lagen von SchülerInnen, die aus sogenannten bildungsfernen Schichten kommen, eingehen können. „Aber der Hammer des Scheiterns ist demütigend“, sagt Franz Walter. Entwertet sind nach Bildungsoffensiven all jene, die es nicht packten, aus proletarischen Niederungen einen anderen Weg zu gehen. Migrantenkinder etwa wählten häufig, so sagt er zum Schluss, BWL oder Jura, um es zu schaffen. Fächer, in denen Latein und Griechisch keine mächtige Rolle spielt. Und in seine, Franz Walters Seminare kämen häufig Kinder von Spätaussiedlern, die den Ehrgeiz und die Kraft mitbrächten, es den Etablierten zu zeigen. Wie er. Denn dieser Politikwissenschaftler, der einst „mir“ und „mich“ nicht präzise sprechen konnte und nun zu den elegantesten Autoren im deutschen Diskurswesen zählt, will es immer noch: es denen mal zeigen. Offen ist momentan nur, an was sich sein Zorn noch entzünden soll.