„Es trägt dich weg“

BETRIEB Die Literaturagentin Barbara Wenner liest stets mit gespitztem Bleistift. Aufregend wird es, wenn sie ihn vergisst

■ Die Person: Barbara Wenner studierte Literaturwissenschaft und Philosophie. 1989 wurde sie Lektorin und später Programmleiterin bei Rowohlt, seit 2000 ist sie Literaturagentin in Berlin.

■ Ihre Lieblingsbücher: Italo Svevos „Zeno Cosini“, W. G. Sebalds „Austerlitz“, „Eine Geschichte von Liebe und Finsternis“ von Amos Oz.

INTERVIEW MARTIN REICHERT

sonntaz: Frau Wenner, schauen Sie gerne fern?

Barbara Wenner: Ja, total. Ich bin ein Serienjunkie.

Aktuelle Abhängigkeit?

„The Wire“! Und immer wieder, leider Gottes, die „Sopranos“. Ich bin übrigens auch – was alle fertigmacht – „Lindenstraßen“-Anhängerin. Seit der ersten Folge. Ich kann mich nicht davon verabschieden, es geht nicht. Das ist wie Chips essen.

Ist ja klar, warum ich das alles frage, oder?

Ja, klar …

Literaturagentinnen müssten doch rund um die Uhr lesen.

Das stellt man sich nur so vor. Aber ich würde gerne noch mal John Peel, den berühmten Radio-Moderator und DJ zitieren, „The Potency of Cheap Music“, das lässt sich ja auf verschiedene Dinge beziehen. Musik, Serien – manchmal auch Bücher: Es gibt Momente, da braucht man einfach Trash.

Was ist Trash auf Bücher bezogen? „Frauenunterhaltung“?

Führen Sie mich bitte nicht auf rutschiges Parkett … Aber sagen wir mal so: Das ist ein Genre. Neu ist „Mums Porn“, obwohl sich das ja auch durch die Literaturgeschichte zieht. Genre-Innovationen waren oft mit Pornografie verbunden.

D. H. Lawrence, „Lady Chatterley’s Lover“!

Boccaccio! „Shades of Grey“ ist dann eben die Kindle-Version.

Wie wäre es denn mit, sagen wir, „Die Baderin von Bad Oeynhausen“?

Sie meinen Historienromane? Nein, auch nicht. Früher habe ich alle „Angelique“-Romane verschlungen, da blieb kein Auge trocken. Womöglich hat sich dieses Bedürfnis damit für alle Zeiten erledigt.

Erinnern Sie sich noch an Ihr erstes, selbstständig gelesenes Buch? Bei mir war das „Ein Hund namens Lars“.

Meines hieß „Puppendoktor Barbara“.

Hat Ihre Mutter Ihnen vorgelesen?

Meine Mutter hat bis heute einen Blumenladen – und ihren ersten hatte sie in einem Raum mit einer Buchhändlerin. In meiner Familie mussten wir immer alles teilen, das Prinzip eine Tafel Schokolade, vier Kinder – aber Bücher, die waren serious. Man durfte hingehen und sagen: Das Buch möchte ich – ausgenommen: Schneider-Bücher

Schund!

Die mussten vom Taschengeld gekauft werden. Ich habe also gelesen ohne Ende, die schönsten Kinderbücher. „Tom Sawyer“, „Die Rote Zora“. Lesen, das war ein Glückszustand. Vermutlich, weil es der einzige Ruhepol in dieser Riesenfamilie war – die Großeltern waren auch im Haus. Hunde, Katzen. Horden anderer Kinder. Es war ein einziger Tumult. Sich ins Bett legen und lesen, das war was.

Nachts heimlich mit Taschenlampe gelesen?

Klar. Lesen, das war meine Individualisierung.

Jetzt ist das Lesen für Sie etwas Professionelles. Wollten Sie nie selbst schreiben?

Diese Vorstellung hatte ich niemals. Es gibt ein wichtiges Buch, das jeder Lektor gelesen hat: „Der Autor, der nicht schreibt“. Ich selbst habe im Rowohlt Verlag als Praktikantin angefangen – und dann hat Michael Naumann mich angestellt. Ich wurde von den älteren Lektoren unter ihre Fittiche genommen. Das war Tradition. Als Lektor dient man. Man ist in der zweiten Reihe, und versucht das Beste aus einem Text herauszuentwickeln.

Immer in der zweiten Reihe …

Ich muss nicht auf einer Bühne stehen. Wenn ich meine Autoren ansehe, sie beobachte, wenn sie auf der Leipziger Buchmesse auf das „Blaue Sofa“ klettern, dann bekomme ich schon bei der Vorstellung, dass ich das tun müsste, Herzklopfen.

Können Sie noch Bücher lesen, ohne dass Sie die Konstruktion durchschimmern sehen?

Ja. Und das sind zauberhafte Momente. Man liest ja permanent im Redaktionsmodus, man arbeitet ständig mit dem Bleistift in der Hand. Aber dann passiert es: Du arbeitest professionell an einem Text und vergisst den Bleistift. Du kommst in den Text rein – und dann wird es schön. Dann trägt dich das weg. Und das ist so erfüllend. Das ist so schön, so etwas erleben zu können. Und es ist großartig, jemanden begleiten zu können, der so etwas kann.

Kann man so etwas „lehren“?

Ein guter Lektor, ein guter Agent kann einem Autor ein Geländer aufzeigen, Richtungen weisen, Vorschläge machen. Es sind Anregungen, mehr nicht. Denn über Schreiben kann man nicht am grünen Tisch verhandeln. Schreiben, da verbindet sich das Denken irgendwie mit der Tastatur.

Das letzte Buch, das Sie hinweggetragen hat?

Mein Lieblingsbuch der Herbstsaison: Annett Gröschner, „Mit der Linie 4 um die Welt“. Sie ist überall auf der Welt mit der Straßenbahnlinie Nr. 4 gefahren. Magdeburg, Tel Aviv, Beijing … Und ich durfte mit, ich habe assistiert, in Beijing und Schanghai. Das war so schön. Das Buch habe ich dann am Ende mit Herzklopfen gelesen – in dem Moment, als es gedruckt bei mir auf dem Schreibtisch war. Das sind ja die verschiedenen Stufen: Erst ist da ein Manuskript, dann die Fahnen – und dann, ganz am Ende, kommt das gedruckte Buch. Das ist immer wieder toll.

Bücher verschwinden gerade aus den Wohnungen, sie sind nicht mehr selbstverständlicher Teil des Interior Designs.

Das ist mir natürlich auch aufgefallen – und es entlockt mir immer wieder bissige Bemerkungen. Aber, na ja: Früher konnte man grüne, rote Pappfassaden für die Schrankwand kaufen – das gibt es jetzt auch in eleganter. In einem edlen Möbelhaus sah ich neulich Suhrkamp-Fassaden, die farblich auf die Inneneinrichtung abgestimmt sind.

Lesen Sie noch privat?

Täglich, vor dem Einschlafen. In den Ferien natürlich. Es ist ein Muss.

Jeder ist ein Autor – stimmt das?

Der Satz hat theoretisch eine Heimat bei Benjamins Radiotheorie: Was hat Autorenschaft mit medialer Entwicklung zu tun? Aber wenn ich diesen Satz heute höre, muss ich sofort an Casting-Shows denken. Und habe entsprechende Empfindungen. Ich denke nicht, dass jeder ein Autor ist, dessen Texte gedruckt werden sollten …

Aber jeder dritte Deutsche träumt davon, sein Leben aufzuschreiben.

Das ist die schreckliche Wahrheit. Das stimmt, ja. Das tun so unglaublich viele Menschen. Und das ist durch das Netz noch heftiger geworden – früher wurden diese dicken unverlangten Manuskripte noch in Papierform in die Verlage geschleudert. Dieser ungeheure Mitteilungsdrang! Hinter wie vielen Fassaden sitzen Leute, die Stunde um Stunde Achthundert-Seiten-Werke verfassen – über ihr Dasein als Mittelpunkt der Welt.

Mein Leben!

Ja. Ja.

Wo rekrutieren Sie Ihre Autoren? Die meisten Bücher, so scheint es, stammen mittlerweile von Journalisten.

Wann hat das angefangen? Irgendwann in den Neunzigern. Man hat vieles aus dem angelsächsischen Raum übersetzen lassen – und dann festgestellt, dass irgendwo die Figur des Autors fehlt. Ein Autor, der im deutschen Sprachraum seine Texte präsentiert, verteidigt, vertritt.

Der in die Talkshow geht?

Nicht nur. Lesereisen, Presse-Interviews. Es ging darum, dem Publikum einfach näher zu sein. Man brauchte Autoren, die dichter dran sind an den kulturellen Auffassungen und Wahrnehmungen eines deutschsprachigen Publikums – und schreiben können.

Die Journalisten mussten ran, weil es zu wenige Autoren gab?

Nicht jeder Journalist ist unbedingt ein Autor. Es läuft eben unterschiedlich. In der Belletristik muss man das anders erläutern, als im Sachbuch. Was die Belletristik angeht: Spricht man über Unterhaltung oder genuine Literatur?

Was ist denn ein Autor?

Der Begriff steht für alle, die ein Buch schreiben, aber es gibt eben Unterschiede, und die haben vor allem mit der intrinsischen Motivation zu schreiben zu tun. Kein Literaturbetrieb, kein Lektor, kein Literaturagent kann jemanden hervorbringen, der aus einem inneren Zwang heraus schreibt – entweder jemand kann das, oder er kann es nicht.

Vertreten Sie denn auch Künstler?

Annett Gröschner etwa würde ich dazu zählen. Aber die meisten Autoren, die im Literaturbetrieb eine Rolle spielen schreiben aus einer anderen Motivation. Sie wollen einfach gute Geschichten erzählen.

Ist da ein neues Genre entstanden – „Bücher ohne Familiennamen“, Gegenwartsliteratur?

Sie meinen den immer größer werdenden Bereich des „erzählenden Sachbuchs“. Das sind hybride Formen. Du brauchst einen Autor, der das Vermögen hat, auf eine leichthändige Weise zu schreiben, sodass dem Leser nicht gleich die Strenge einer monografischen Abhandlung entgegenschlägt. Da hat sich ein neues Feld geöffnet.

Ist das gut?

Da sind sehr schöne Sachen entstanden – auch wenn manche Kritiker gleich wieder den Untergang des Abendlandes wittern. Dieser arrogante Blick darauf, diese permanente Spaltung in E und U, das ist recht deutsch und bestimmt noch immer die Blickweise. Man muss aber natürlich sehen, dass manche Autoren, die nichtfiktionale Meisterstücke kreieren, es unter den jetzigen Marktbedingungen immer schwerer haben. Auch solche, die ganz tief in Sachverhalte einsteigen, tiefe Recherche leisten – solange auf diesen Büchern nicht „Literatur“ steht, sind die von allen Förderungen und Preisen ausgeschlossen. Und die Verlage haben nicht die Kapazitäten, diese Leistungen in Honorare zu fassen. Jemand wie Egon Friedell würde heute komplett aus dem Raster fallen. Für solche Autoren ist es sehr schwer.

Man hört, die Zielgruppe des deutschen Buchmarktes sei weiblich, um die vierzig und in Oldenburg lebend.

Ist wohl wahr.

Männer lesen nicht?

Männer lesen harte Stoffe, aber da kann man bis ins 18. Jahrhundert gehen, Lesen ist weiblich. Frauen kaufen Bücher, und sie verkaufen Bücher.

Und arbeiten in den Verlagen.

Ja. Und die Verleger sind natürlich hauptsächlich Männer.

Und schreiben tun sie – um Frauen zu beeindrucken?

Manche bestimmt. Aber die Verleger suchen mittlerweile gezielt nach Autorinnen – Frauen wollen auch Frauen als Autorinnen.

Die Männer werden auf dem Feld der Literatur zurückgedrängt?

Manchmal sieht es so aus.

Und warum um die vierzig?

Es gilt jetzt, die Schlacht um die jüngeren Leser zu führen. Das E-Book ist da eine wichtige Möglichkeit. Letztlich ist das ja egal, gedruckt oder digital, Hauptsache es wird überhaupt gelesen.

Und warum Oldenburg – liest man da mehr, weil es dort womöglich langweilig ist?

Das ist jetzt vielleicht etwas pauschal. Aber ich könnte mir vorstellen, dass es in diesen mittleren Städten nicht so ein großes Konkurrenzangebot gibt wie in Berlin oder München.

Die Autoren sitzen aber alle in Berlin.

Viele – aber es gibt ja auch genügend Autoren, die im Gegenteil die Stille fernab des großstädtischen Getriebes suchen, um dort arbeiten zu können.

Wie lange brauchen Sie, um eine Buchseite zu lesen?

Ich entscheide mittlerweile in Sekundenbruchteilen, was ich lese und was nicht. Das hätte ich mich am Anfang meines Berufslebens nicht getraut, da habe ich jedes einzelne Wort gelesen. Ich wäre auch verhauen worden, wenn ich das nicht gemacht hätte. Aber im Laufe der Zeit gewinnst du an Tempo, das ist wie beim Laufen, eine Frage des Trainings. Man liest diagonal.

„Querlesen“.

Ja. Wenn ich weiß, der Autor hat mit Kapitelanfängen Probleme, dann achte ich auf Übergange. Andere haben grammatikalische Probleme, und dann achte ich vor allem darauf. Man hat dann einen Marker im Kopf.

Lesen Leser womöglich auch quer?

Ein gutes Buch muss so sein, dass der Leser richtig liest. Sonst ist das Schlamperei. Aber in dieser Hinsicht inspirieren mich die neuen digitalen Techniken, man muss sich den neuen Rezeptionsgewohnheiten anpassen. Die Leute konzentrieren sich auf Ausschnitte, orientieren sich punktuell. Aber wie funktioniert das dann im Text? Wie muss man die Module abstimmen? Mit einem Roman geht das allerdings nur begrenzt, das liegt auf der Hand.

Das bedeutet, dass eigentlich jeder Absatz eines Buches für sich funktionieren müsste?

Das muss man dann schon beim Verfassen mitdenken: Wie kann ich Shortys aus einem Text ziehen, die sich für die E-Book-Vermarktung eignen?

Shortys?

Das ist wie mit Songauskopplungen. Man bietet kleine Stücke an. Man baut 30 Seiten zusammen, die originell geklammert sind und bietet das für 1,99 Euro an. Das muss nicht enhanced sein.

Enhanced?

Da müssen nicht gleich auch noch sieben Filmchen ablaufen. Da fahren die Leser gar nicht drauf ab. Es sind Songauskopplungen aus dem Text selbst. Fragmente, die auf schnelle Lektüre in der U-Bahn zugeschnitten sind.

„Readers Digest“ digital?

Readers Digest ist wie ein Eintopf. Aber der digitale Leser will nur das, was er sucht. Er folgt einer Community, einem bestimmten Thema. Ich sage dann einem Autor: Stell doch mal was aus deinem Text zu dem oder dem Aspekt zusammen. Oben drüber kommt dann eine Headline, so wie bei einem YouTube-Video.

Und dann kaufen die das 1,99-Ding – und anschließend das Buch?

Ja. Hoffentlich.

 Martin Reichert, 39, sonntaz-Redakteur, ist Journalist und Buchautor. Er hat derzeit keine Agentin.