Der Frühaufsteher

TRADITION Christian Regner legte in Berliner Clubs auf und reiste um die Welt. Dann rief seine Mutter an und holte ihn zurück in die bayerische Provinz. Er sollte die Bäckerei der Familie retten. Porträt eines bedrohten Handwerks

■ Der Bäcker: Christian Regner, Jahrgang 1979, ist in Frankfurt am Main geboren und im bayerischen Neustadt an der Donau aufgewachsen. Seine Bäckerlehre begann er 1998 in München. 2003 besuchte er die Meisterschule in Frankfurt, danach arbeitete er in verschiedenen Betrieben in Europa. 2006 übernahm Regner die Bäckerei seiner Eltern in Bayern.

■ Das Handwerk: In Deutschland wird jeden Tag eine Bäckerei geschlossen. Rund 14.000 Handwerksbetriebe gibt es momentan, in einigen Jahren werden es wohl nur noch 8.000 sein. In den fünfziger Jahren gab es etwa 55.000. Laut dem Zentralverband des Deutschen Bäckerhandwerks wurden 2011 pro Haushalt 52 Kilo Brot und Backwaren konsumiert.

■ Der Wettbewerb: Familienunternehmen können der Preispolitik von Supermärkten mit Aufbackstationen und Selbstbedienungsläden wie Backwerk oder Back Factory kaum standhalten. Ein Brötchen kostet beim Bäcker im Schnitt 30 Cent, im Selbstbedienungsladen 15. Bei Backwerk werden 20 Prozent der Einnahmen für Personal ausgegeben, in klassischen Bäckereien sind es bis zu 40 Prozent.

AUS NEUSTADT AN DER DONAU ANNABELLE SEUBERT

Am Ende ist es gar nicht der Schweiß, der sich auf die Haut legt um 2.30 Uhr, der ihn zweifeln lässt. Es ist nicht die Hitze, die an den Fliesen klebt und, 3 Uhr, 7 Uhr, 10 Uhr, jede Bewegung entschleunigt. Auch nicht der säuerliche Geruch, der sich, 4 Uhr, 8 Uhr, 12 Uhr, mit der Feuchtigkeit verbindet, in die Fugen kriecht und in die Kleidung.

Was ist es dann?

Christian Regner schließt den Laden auf, Bad Gögging, hundert Kilometer nördlich von München, ein Rathaus, ein Golfplatz, die Stadtpfarrkirche, noch ist es dunkel. „Viel“, sagt er.

Ohne nur einen Schluck Wasser zu trinken, ist er aufgestanden mitten in der Nacht. Bad: drei Minuten; weißes T-Shirt, weiße Mütze, gestreifte Hose: zwei Minuten; gestreifte Converse – los.

Er schneidet kleine Teigstücke vom großen Stück Teig, lässt den Plastikschaber durch die dunkle, grobkörnige Vollkornmasse gleiten, legt sie auf die alte Waagschale mit den Messingbeschwerern, wirft sie auf die Holzplatte vor sich. Und wälzt. Stehend, den Rücken gebeugt, einen Teig in jeder Hand, 1,5 Kilo links, 1,5 Kilo rechts, rollt er die noch unförmigen Teile aneinander, bis sie rund werden. Auch das im Takt, immer eins, zwei, eins, zwei, der Oberkörper wippt dazu, und das Mehl sitzt an den Schläfen fest, von den vielen Malen, die sich Christian Regner schon jetzt über die schweißnasse Stirn wischt. „Das ist wie acht Stunden Sport“, sagt er laut, bayrisch und gedehnt.

„Auch ein Grund, weshalb das keiner mehr machen will“, sagt er, eher leise.

Die Kollegen, zehn insgesamt, sie müssen ja nicht ständig hören, dass es dem Betrieb schlecht geht, einem Familienunternehmen auch noch, gegründet von den Urgroßeltern, den Schmids, 1925. Der Opa Theo, ein Angeheirateter, hat der Bäckerei später den Namen gegeben, den sie heute hat, Bäckerei Regner. Der Theo sei nicht die ganz große Liebe der Oma Schmid gewesen. Sie habe ihn halt genommen. „Von den drei Männern, die sie zur Auswahl hatte, war er der anständigste“, sagt Christian Regner.

Gemeinsam hätten der Theo und die Oma nach dem Krieg Brot im Dorf verteilt, schwarz, im Verborgenen. Damals waren sie noch wichtig. Ganz anders als jetzt, meint Regner, wo Bäcker geringer geschätzt würden als Ärzte oder Juristen. Wo man zusehen kann, wie sich Stadtbilder verändern, in Fußgängerzonen und Kaufhäusern Filialen der Backdiscounter entstehen und jeden Tag eine Traditionsbäckerei schließt, von den 55.000 aus den Fünfzigern 14.000 übrig geblieben sind.

Christian Regner, 33, schmal, agil, Bäcker-, Konditormeister und der Chef hier, läuft zwischen Geräten und Behältern in diesem mittelgroßen Raum in diesem kleinen Kurort umher, der Boden ölig, die ersten Salzsemmeln roh auf dem Blech, und erzählt seine Geschichte. Eine, die erklären kann, warum von den 14.000 existierenden Traditionsbäckereien wohl bald nur noch 8.000 übrig sein werden und intakte Handwerksbetriebe die Ausnahme sind. Sogar auf dem Dorf und in Niederbayern, wo man Wert legt auf die echte Kaisersemmel, die ordentliche Brezn, auf Transparenz, gute Nachbarschaft.

Die Selbstbedienungsläden seien schuld an der Pleite

Er erzählt sie in Bruchstücken, weil sein Programm ohne Fehler abgearbeitet werden will. Bestellte Ware muss jetzt gebacken werden, damit er sie rechtzeitig zu Großkunden bringen kann. Ist er zu spät, gibt es schnell Beschwerden. Gibt es Beschwerden, gibt es schnell einen Kunden weniger. Zwischendurch müssen die Brötchen fertig werden, die im Verkaufsraum gut gehen. Dann muss Christian Regner selbst verkaufen und Zutaten einkaufen, hoffen, dass er nichts vergisst, dass er die Menge richtig einschätzt, neue Bestellungen annehmen, hoffen, dass es viele sind, dass der Tag reicht.

Mit den Selbstbedienungsläden, meist Franchiseunternehmen, beginnt er, die seien schuld an der ganzen Pleite und der Konkurrenz ums billigste Brötchen. Backwerk vor allem, Backwerk habe ihm 2006 die Filiale in Ingolstadt ruiniert. Aber es gebe ja auch Back Factory, Back König, Mr. Baker. Und die Supermärkte und Tankstellen natürlich, den Vorverkauf und die Aufbackstationen bei Edeka, Lidl, Aldi. Schuld sei auch so manche Bäckerei um die Ecke, in der wie bei den großen Konzernen industriell gefertigte Teiglinge in den Öfen landen.

Dann holt er aus, weit sogar: Der dritte Traumjob war es bereits, er wollte Koch werden, dann Fernfahrer, und als er sieben war, Bäcker. In seinem Poesiealbum hätten die meisten Schulfreunde „Lehrerin“ oder „Astronaut“ als Berufswunsch angegeben, er schrieb „Bäcker“. Sein Ziel sei dabei immer so klar gewesen, dass er nie darüber hatte nachdenken müssen. Jeden Tag weckten ihn Eltern, die gern früh aufstanden für das, was sie taten. „Mein Dad war immer gut gelaunt, man hat gemerkt, das ist seine Berufung, was der macht.“

Und wie Christian dann, einen Meter zwanzig groß, zum ersten Mal hausgemachtes Eis verkaufte. „Die haben mir zwei Brotkörbe hingestellt, auf denen ich stand. Fünfzig Pfennig eine Kugel, zwei Kugeln eine Mark.“ Schöner fand er nur, mit der Schwester in die Semmelbröselhaufen zu hüpfen, die die Gesellen gerade zusammengekehrt hatten. Oder am Morgen den „Eiweck“, ein Milchbrötchen, das man in der Mitte teilen kann, in warmen Kakao zu tunken.

Das waren die guten Jahre für die Familie, die achtziger und die frühen neunziger, „Goldgräberstimmung“ habe damals geherrscht.

Es war die Zeit, zu der im Ort Thermen eröffnet wurden mit Schwitzbädern nach antikem Vorbild, Caldarium, Tepidarium, Sudatorium. Es wurden Hotels eröffnet, Tagungsstätten, Rehazentren, ein Spa & Golf Resort. Die Stammkunden kamen mit Wäschekörben, um darin Regners Brotlaibe zu stapeln. So oft, dass Regners nahe der Bäckerei noch ein Café aufbauten.

Drei Uhr.

Christian Regner sagt: „Meine Käsestangen sind die Weltmacht oder besser.“

Er will seine Situation verstanden wissen, bevor er von seiner Branche erzählt.

Er will erklären, warum er auf seine Freiheit verzichtet hat, um Bäcker zu sein.

Regner bewegt sich flink, bald müssen die ersten Plastikkisten mit Backware gefüllt und an die Hotels geliefert werden, die seine Brötchen für 5-Sterne-Frühstückbuffets brauchen, eines will seine schon um viertel nach fünf. „Ich war das goldene Kind“, sagt Christian Regner und es klingt höhnisch, so als sei er das schwarze Schaf. Bei ihm lief es viel besser als bei seiner Schwester, die bald ausgezogen war, nicht wusste, was sie arbeiten sollte, aber wusste, dass sie nicht in der Bäckerei arbeiten will.

1998 begann er die Lehre in München, ein Musterschüler, für den sich das Teigkneten gleich vertraut anfühlte. Ein Mustersohn, der Verantwortung ernst nahm. Im Dorf sagten die Leute: Bei den Regners ist die Nachfolge ja geklärt.

In der Stadt war das anders, die meisten Freunde studierten, die Mädchen fragten: „Und was studierst du?“ Irgendwann hatte er ihre Reaktionen satt, „Bäcker, hm. Musst früh raus, hm.“ Also erzählte er, er sei im fünften Semester, Französische Literatur des 18. Jahrhunderts.

Und ging, nicht viel später, nach Frankfurt zur Meisterschule, 2003. Zum Backen nach Köln, 2004. Nach Berlin. An Deck der MS „Astoria“, Richtung Korsika und Johannesburg. Nach Spanien, England, Österreich, 2005.

Wenn man ihn damals gefragt hätte, warum er Bäcker und Konditor geworden ist, hätte Christian Regner mit dem Geruch argumentieren können, der Kunstfertigkeit, mit den Ägyptern, die vor 5.000 Jahren Fladen in heiße Asche schoben, mit Jesus, mit Marie Antoinette.

Wahrscheinlich hätte er geantwortet, was er heute antwortet: „Du schaffst ein Produkt aus ein paar Zutaten. Das ist, wie wenn ein Tischler aus einem Holzklotz einen Stuhl macht.“

Christian Regner war in Küchen des Ritz Carlton und des Dorchester angestellt und gerade bei einer Cateringagentur in Wien, die ihn auch nach Schanghai oder Malaysia schickte – „das Selbstbewusstsein mega“, sagt er. Dann rief ihn seine Mutter an und fragte: „Kommst du heim?“

Da wusste er längst, dass das Café schlecht lief. Er wusste bloß nicht, wie schlecht es lief.

Er hielt es nicht aus: das Landleben, die Schulden

Er wusste vor allem nicht, wie überfordert die Eltern waren. Seine Mutter: eine Frau mit müden Augen. Und sein Vater: ein Mann mit Bandscheiben- und Ischiasbeschwerden – sie hatten einen Betrieb zu leiten und einen Schuldenberg zu tilgen, der lange nicht getilgt ist.

Christian Regner verstand das erst, nachdem er seine Koffer gepackt hatte und nach Hause gekommen war, das erste Mal seit Langem in der Bäckerei stand, entkräftete Eltern sah und das, was er „die Zustände“ nennt. Die Zustände, das waren Meister und Gesellen, denen die Arbeitsmoral verloren gegangen war, die stritten und drei Jahre in Folge Lehrlinge einstellten, von denen keiner seine Ausbildung abschloss.

Christian Regner sucht sich ein paar Plastikkisten zusammen, vorbei an Trögen, auf deren Etiketten „Sonnenblumen“, „Milchpulver“ oder „Mandeln gehobelt“ steht, Blech um Blech schüttet er erste fertige Mohn- und Salzbrötchen in die Boxen und trägt sie raus zum Lieferwagen. Dann noch mal zurück, aus der Küche des Konditors nebenan, wo es nach Marmelade und Zucker duftet, in Containern Himbeergeist und Kirschwasser lagern, den Zwetschgenplunder dazupacken, ins Auto, Zündschlüssel, Gaspedal.

Sechs Uhr.

Er habe versucht, die Zustände zu ändern, es aber nicht ausgehalten, das Landleben, Bad Gögging, die Schulden, keine Reisen nach Schanghai. Ein halbes Jahr, mehr ging nicht, Christian Regner dachte: „Wenn du jetzt richtig in den Betrieb einsteigst, kommst du nicht mehr raus.“ Darum ging er wieder, zum zweiten Mal nach Berlin, Schulung zum Betriebswirt. Abends legte er in Indie-Clubs auf, am liebsten die Strokes oder die Killers.

Und dann fing das mit Lena an, „d’ Lena“, sagt Regner, bei ihm haben die Namen Artikel, manchmal verschluckte. Einer Frau, die nicht fragte, was er studierte, die „Visual Merchandiser“ bei H&M in München ist und findet, dass der Bäckeralltag und Bad Gögging aus der Zeit gefallen sind, der Christian Regner immer so hinterherhechtet. „Durch sie hab ich das hier überstanden“, sagt Regner und meint den zweiten Versuch, zu bleiben, die Familienbäckerei zu übernehmen und die Nachfolge zu klären, von der es längst hieß, sie sei ja geklärt.

Christian Regner ließ das mit den Reisen und Umzügen. Er wollte retten, was nicht zu retten ist.

Ins Haus der Oma, die den Theo damals halt genommen hatte und seit Kurzem zur Pflege bei den Eltern wohnte, ist er gezogen. Er hat Poster von den Strokes aufgehängt, die nicht richtig zur Eckbank in der Küche, den braunen Fliesen im Bad passen wollen.

Er hat die Routine akzeptiert, die 2.000 Euro brutto, die er als Angestellter in seiner eigenen Bäckerei verdient, in einer anderen könnten es mindestens 3.000 sein. Er hat die Fernbeziehung zu seiner Freundin akzeptiert und dass er die gemeinsame, jetzt dreijährige Tochter vermisst, die bei ihr in München wohnt. Dass die Clubnächte weitgehend ohne ihn am DJ-Pult stattfinden, er für sein neues Buch von David Foster Wallace ewig brauchen wird, obwohl er gern jeden Satz in sich aufsaugen würde, wie er sagt, das hat er auch akzeptiert, und dass er Freunden ständig absagen muss, wenn sie ihn zu Konzerten einladen, er nicht zum Casting von „Schlag den Raab“ nach Köln reisen kann, weil er eine Hochzeitstorte kreieren muss.

Er will nicht akzeptieren, dass er abends mit dem Gefühl wach liegt, das Leben zu verpassen.

Er sagt: „Oft denke ich jetzt schon: Hätt’ ich halt was anderes gemacht.“ Obwohl er seinen Job liebt.

300 Artikel im Sortiment, das wollen die Kunden

2006 unternahmen die Regners ein weiteren Versuch, ihren Betrieb zu retten. Sie richteten eine neue Filiale in Ingolstadt ein.

„Zwei Wochen nachdem wir eröffnet hatten“, sagt er, „eröffnete schräg gegenüber eben Backwerk. Mit Dumpingpreisen und schlechter Qualität.“

Und dann hätten sie halt zugesehen, wie die Menschen drüben Schlange standen und bei ihnen nichts los war.

Und dann? „Haben wir die Filiale abgegeben, weil sie nicht gelaufen ist, 2008.“

Ein Industriebrötchen erkenne man, indem man es liegen lasse. Frische Brötchen würden immer schmecken. „Ein Aufbackbrötchen wird nach drei Stunden zäh und trocken. Eins vom Bäcker ist da noch kross.“ Darum, sagt Christian Regner, brauche es noch Bäcker, traditionelle Bäcker.

Aber die neuen werden mehr. Allein Backwerk, der Marktführer unter den Selbstbedienungsläden, wirbt heute mit fast 300 Filialen. Das Konzept ist einfach, braucht kaum Personal, nur jemanden an der Kasse und ein, zwei Leute hinter der Theke, von denen man vor der Theke meist nur die Köpfe sieht und nicht, wie sie die gelieferte Ware – „pre-baked“, zur Hälfte durchgebacken – bei der für die vorgeschriebene Länge vorgeschriebenen Temperatur fertig und golden bräunen.

Christian Regner will den Berichten Gewicht geben, die sich häuften vor einigen Jahren. Über Backshops, die ihre Teiglinge aus Tschechien oder Polen – mitunter bis zu neun Monate tiefgefroren – als Massenware in Lastwagen beziehen würden. Über den Hygieneskandal in der oberbayrischen Großbäckerei Müller-Brot, in der Kontrolleure auf Schaben und Motten stießen. Über die Backstationen in rund 1.800 Aldi-Märkten, in denen Brötchen bestimmt nicht gebacken, sondern höchstens erhitzt würden, und das mit zu wenig Roggenmehl im Mischbrot. Selbstbedienungsfilialen lohnen sich nur an stark frequentierten Standorten, belebten Straßen, Bahnhöfen. Um einen sinnvollen Jahresumsatz von 400.000 Euro zu erwirtschaften, braucht es in einem solchen Laden 10.000 Passanten täglich.

Bei den Regners kommen von den 400 Leuten am Tag 300 schon vor 11 Uhr. Geöffnet bleibt die Bäckerei trotzdem, Montag bis Samstag, an Feiertagen, 6 bis 18 Uhr.

„Ein Signal an uns. Damit wir nicht einknicken“, sagt Christian Regner.

Er schiebt Quarkschnitten in die Auslage.

Acht Uhr, ein Kunde.

„Habts kein gutes Jahr gehabt mit den Rohstoffe, ge! A Kasstangerl.“

65 Cent.

„Nein, aber wenn wir die Preise erhöhen, gehns alle in den Supermarkt.“

Das werde erwartet, sagt er, der Kunde ist gegangen: die rauen Mengen, Vielfalt, 300 Artikel im Sortiment, das Geplauder, wenn die Brötchentüte über die Theke gereicht wird. Man lasse sich das nur wenig kosten, weil sich bei Lebensmitteln sparen lässt: Seine Semmel kostet 27 Cent, die im Discounter 15. In Deutschland war es vielleicht nach dem Krieg normal, die Hälfte des Gehalts für Essen auszugeben. 2010 steckte der Durchschnittshaushalt elf Prozent seiner Konsumausgaben in Nahrungsmittel und alkoholfreie Getränke.

„Tanken müssen die Menschen, wenn sie Auto fahren wollen“, sagt Christian Regner. „Auch für einen Euro siebzig den Liter.“ Er versuche, nett zu sein, zu glänzen, mit den Torten, den Prinzregenten, Schweizer Mandel, Spanische Vanille, Bayrisch Creme, Nusscreme, Apfel, Eierlikör.

Der nächste Kunde.

„Gibst mir so ein Krapfn! Dann hammas scho.“

85 Cent.

Die Mama kommt zurück, Christian Regner läuft nach hinten zu den Öfen, dem öligen Boden. Eigentlich läuft er nicht, er rennt. Sieht auf den Backplan am Fenster, den er abends vorbereitet, die Summe aus Bestellungen und geschätztem Verkauf. Er scannt den Plan, die Augen schweifen von oben nach unten, ein paar Sekunden, dann hat er die Ziffern im Kopf und die Produkte, die noch gebacken werden müssen. Kaisersemmeln: 858, Brezn: 560, Römerkipferl: 35, Krustensemmeln: 100.

„Brezn!“ Ein Zuruf an die Kollegen, bayerische Wortfetzen, die übertönt werden vom Rotieren des Spiralkneters, einer Maschine, die wässrigen Brei anrührt, dem Stampfen des Hubkneters, der Teigfäden gegen das Innere einer Silbertrommel klatscht, ein Geräusch, wie wenn man durch nasse Erde läuft. Und dann die Basstöne, wenn Sterne auf die Kaisersemmeln gestanzt werden, rhythmisch, kawumm.

Neun Uhr.

Er flicht Brezeln, dreht sie in der Luft, zehn pro Minute.

Es liegt an der Industrie, dass seine Tradition stirbt.

Zehn Uhr.

Er streift durch den Keller, notiert, was fehlt, Aprikosen aus der Dose, Kirschen im Glas.

Es liegt am Verbraucher, dass sein Arbeitsplatz wackelt.

Elf Uhr.

Er nimmt sein Kontrollpapier, auf dem er abhakt, welche Geräte schon geputzt worden sind. „Sahnespender reinigen und desinfizieren“. Ein Strich, zwei Striche, eins, zwei, eins, zwei.

Es liegt an ihm, dass er zweifelt.

Christian Regner weiß, dass es die Dichte des Wettbewerbs ist, die ihm das Geschäft vermiest. Viele verschiedene Teilnehmer, die mit minimalen Preisen nach maximalen Summen streben, dabei abhängig sind von Rohstofflieferanten, ertragreicher Ernte und hohen Kosten für Maschinen, treiben das Geschäft mit den Brötchen in eine Richtung, die immer ähnlicher schmeckt. Nach Backmittel, produziert in Laboren mit Namen wie Ireks, Uldo, Meistermarken – oder Backaldrin in Österreich.

Christian Regner weiß aber auch, dass es sein Traumberuf ist, der ihm das Leben vermiest. Wegen der Schulden sitzt er über Initiativbewerbungen; überlegt, ob es seine Bäckerei sein muss, die als Nächstes schließt.

Und wegen eines Vaters mit Ischias, der müden Augen von Mama, der Killers, der Strokes, David Foster Wallace, der braunen Fliesen im Bad, Azubis, die ausbleiben, weil ihnen vielleicht der Schweiß und der Geruch von Sauerteig um zwei Uhr dreißig zuwider ist, wegen der Schlafrhythmen – 13 bis 16, 23 bis 2 Uhr, überhaupt der Schlaflosigkeit, der Angst, sich wie Oma Schmid mit Anständigem zufriedenzugeben, ob das in der Familie liegt? Wegen der Freundin und der Tochter in München und Bad Gögging, jeden Morgen.

12 Uhr.

Er legt die Schürze ab und geht aus dem Laden, es ist längst hell.

Was mich zweifeln lässt?, fragt er jetzt.

Viel.

Annabelle Seubert, 26, ist sonntaz-Redakteurin in Berlin. Ihr Arbeitstag beginnt um 9.30 Uhr