Eigentlich eine Liebesgeschichte

ENTSCHLUSS Timo Konietzka, der Fußballer, der das erste Bundesligator schoss, er will nicht am Krebs zerfallen. „Ich will sterben“, sagt er zu seiner Frau im Februar. „Ja“, sagt die. Im März ruft sie die Sterbehilfe an

■ Geboren: Konietzka kam am 2. August 1938 im nordrhein-westfälischen Lünen zur Welt.

■ Gespielt: Seine Karriere begann Konietzka als Stürmer bei VfB Lünen 08. Als er 20 war, entdeckte ihn Borussia Dortmund. Zwischen 1965 und 1967 spielte er bei 1860 München. 1966 attackierte er einen Schiedsrichter und wurde dafür ein halbes Jahr gesperrt. Er ging in die Schweiz, spielte in Winterthur und Zürich. Danach begann er eine zweite Karriere als Trainer.

■ Gefeiert: Am 24. August 1963 schoss Konietzka das erste Tor in der gerade gegründeten Bundesliga. Er gewann den DFB-Pokal und wurde Meister in Deutschland und der Schweiz. Für die Deutsche Nationalmannschaft schoss Konietzka neun Tore in drei Spielen.

■ Gelebt: Mit seiner Frau Claudia betrieb Konietzka ein Gasthaus am Vierwaldstättersee. Seit 2001 war er Mitglied bei der Sterbehilfeorganisation Exit. Als bei ihm im Februar 2012 ein Tumor festgestellt wurde, nahm er sich am 12. März 2012 das Leben.

AUTOR ERWIN KOCH
ILLUSTRATION ELÉONORE ROEDEL

Er sitzt am Tisch und sagt, sein Urin, heute Morgen, sei orange gewesen.

Sie schweigt.

Der Herr Konietzka und sein Urin, denkt die Frau.

Vorige Woche erst ist er wieder mit einer Schachtel nach Hause gekommen, Pülverchen darin, Vitamine oder was, MorgenStund, WurzelKraft, 7x7 KräuterTee, nur echt nach Dr. h.c. Peter Jentschura, vor Weihnachten saß er auf dem Sofa, einen Stapel alter Zeitungen neben sich, Bild, Wie schütze ich mein Herz?, Wie schütze ich mich vor Krebs?, Wie schütze ich mich vor Alzheimer?

Timo, iss Brot zum Frühstück, Butter, Konfitüre, wie jeder Normale in diesem Land, sagt sie und zündet die erste Zigarette an.

Vergangene Nacht habe er gekotzt, keucht er. Und Ihr Stuhlgang, fragt der Arzt, ist der eher schwarz, eher weiß?, 30. Januar 2012.

Haben Sie Juckreiz, Herr Konietzka?

Schlimm kann es nicht sein, so wie du lebst, sagt Claudia zu ihrem Mann Timo, Wirtin im Gasthaus Ochsen, gerühmt für ihr Poulet im Chörbli, Hähnchen im Bastkorb, Schweiz, CH-6440 Brunnen am Vierwaldstättersee.

Konietzka zieht seine Sportschuhe an, rennt los wie jeden Morgen seit fünfzig, sechzig Jahren, eine Stunde Dauerlauf.

Ein Gallensteinchen vielleicht, du wärst nicht der Erste.

Sonographie und MRCP im Kantonsspital Schwyz, Waldeggstraße 10, es ist Donnerstag, 9. Februar 2012, Ultraschall und Magnetresonanz-Cholangiopankreatikographie, 9 Uhr 15.

Das genaue Resultat kennen wir erst morgen, sagt der Chefarzt Innere Medizin, am besten, Herr Konietzka, Sie kommen mit Ihrer Frau.

Timo greift zum Kalender, schmal und blau, 2. 3. 2012 Oliver 48, 26. 4. Rhodos ab Stuttgart, 10. 5. Rhodos zurück, 8. 6. Beginn Europameisterschaft, 1. 7. Ende Europameisterschaft, 17. 9. Ochsen zu, 14. 10. 2012 Claudia 59. Ein gelber Zettel klebt auf der hintersten Seite, DU BIST UND BLEIBST MEIN GROSSES GLÜCK SO LANGE ICH LEBE. ICH LIEBE DICH. DEINE FRAU.

Seine Galle fließe kaum ab, erklärt der Chefarzt Innere Medizin, jene Flüssigkeit also, die in der Leber entstehe, sich dann in den Zwölffingerdarm ergieße, ins so genannte Duodenum, und dort zur Verdauung beitrage, Ihre Galle, Herr Konietzka, staut sich, bedingt durch ein Gewächs, in die Leber zurück. Das kann man reparieren, nicht hier in Schwyz, aber in Zürich, ich empfehle das GastroZentrum der Klinik Hirslanden.

Reparieren?, fragt Claudia.

Stellen Sie sich eine Magenspiegelung vor.

Dem Timo fehlt doch nichts im Magen.

Auf den Magen folgt der Zwölffingerdarm. In den führt man, wie bei einer Magenspiegelung, also durch die Speiseröhre, ein Endoskop, einen Schlauch, versehen mit einer kleinen Lampe, einer Art Kamera und einem Arbeitskanal, in dem ein Metalldraht steckt, ein Instrument. Das schiebt man in den Zwölffingerdarm und dort in die Mündung des Haupthallengangs, so tief, bis die verengte Stelle erreicht ist, durch die die Galle nicht mehr fließt. Dort setzt man, damit sie wieder fließen kann, ein Schläuchlein ein. Tut nicht weh.

Ob das sehr eile, fragt Claudia, Timo und sie seien kommende Woche, am Schmutzigen Donnerstag, das Bartlipaar – die Zunftmeister der Brunner Fasnachtsvereinigung, der Bartligesellschaft –, da könnten sie, sagt Claudia, schlecht fehlen.

Dann, Herr Konietzka, melde ich Sie für den Tag danach an, Freitag, 17. Februar, denn was Sie haben, haben Sie schon lange, auf Stunden kommt es nicht an.

Konietzka sitzt neben seiner Frau und nickt. Am Abend, das Gesicht aus Wachs, greift er zum Kalender, DU BIST UND BLEIBST MEIN GROSSES GLÜCK SO LANGE ICH LEBE, er blättert durch Namen und Nummern, APS Arzneimittel Parallelimport Service AG 041 560 14 00, Apotheke Hofmatt, BLICK, BVB Borussia Dortmund, DFB Deutscher Fußball-Bund, EXIT, 17. 2. 2012, 07.00 Zwölffingerdarm Klinik Hirslanden.

Solche Sachen, tröstet die Frau, sind doch Routine.

Nachts erbricht er wieder, sein Urin ist orange. Vielleicht kannst du am gleichen Tag noch nach Hause, sagt sie.

Es ist kalter Winter, bald Fasnacht, Claudia kauft Timo Thermounterwäsche, Timo soll nicht frieren, wenn er, Bartlivater 2012, am Schmutzigen Donnerstag neben ihr in einer Kutsche sitzt, stundenlang unterwegs in den Straßen von Brunnen am Vierwaldstättersee.

Um 4 Uhr stehen sie auf, er hält sich an Vitamine und Pillen, sie an eine Zigarette, der Bartlivater, wie es Brauch ist, trägt ein weißes steifes Hemd, einen schwarzen Frack, um den Bauch eine breite rote Binde, eine rote Binde auch um den Hals, und auf der Brust, groß und rund, ein Medaillon, der Brunner Bartli, ein buckliges Männchen. Endlich setzt sich Timo einen roten Filzhut auf, Claudia einen blauen.

Wenn es nur schon Abend wäre, sagt er.

Um 6 Uhr lärmen ein halbes Dutzend Blasmusiker vor dem Haus der Konietzkas, Dammweg 9, das Bartlipaar öffnet ein Fenster, es lacht und winkt und lacht, sie steigen hinab, beschenken die Narren mit Brot, Kaffee und Schnaps, Schmutziger Donnerstag 2012, heute ist erlaubt, was sonst verboten ist.

Irgendwann schaut Claudia hinüber zu Timo, seine Augen sind trüb.

Seltsam ist er geworden, seit er dieses Herzvorhofflimmern hatte, Ende 2010, anhänglich ist er, seit er, neben seinem Gesundheitszeug, nun auch Medikamente schluckt, Triatec am Morgen und am Abend, Aldactone, Cordarone, Torem, seinen Freunden von der Zeitung Blick hat er gesagt, er, Mitglied der Sterbehilfeorganisation Exit seit vielen Jahren, werde es nie zulassen, zu zerfallen, er plane, wenn der sich nähere, seinen Tod, danach gäbe es keinen Himmel und keine Hölle, da bist du einfach weg.

Timo, flüstert sie, wie geht’s?

Er lächelt und schweigt.

Neulich hat er Freunde zum Flughafen gebracht und beim Abschied geweint, der Herr Konietzka, der nie weint, mein Stahlträger aus dem Kohlenpott.

Was weinst du?

Weiß nicht, hat er gesagt.

Weiß nicht, was los ist mit mir.

Nun ist es 11 Uhr, das Bartlipaar und sein Gefolge, wie es sich gehört, wartet den Nonnen des Klosters Ingenbohl auf, eine Schwester begrüßt im roten luftigen Rock: Liebe Bartlifamilie, wir alle, Schwestern und Angestellte, freuen uns über diesen hohen Besuch – Tusch –, dann stellt sie den Nonnen, die in drei Reihen sitzen, die Bartlimutter vor. Claudias Eltern, liest die Nonne vom Blatt, seien Musiker gewesen, der Vater Flötist in der Zürcher Tonhalle, die Mutter Sängerin im Opernhaus – Tusch. Aus erster Ehe habe sie – die Wirtin im Gasthof Ochsen, viel gelobt für ihre Poulets im Chörbli –, zwei Kinder, jedes verheiratet, jedes Mutter oder Vater von zwei Enkelkindern – Tusch.

Aber jetzt, jubelt die Schwester, zum sportlich erfolgreichsten Bartlivater, den Brunnen, das Kloster und die Welt je sahen: Timo Konietzka!

Die Nonnen, graue Kutten, schwarze Schleier, heben ihre Arme, flattern mit den Händen und singen, am Vortag geübt, im hellen Chor: Ein Tor, ein Tor, ein Timotor!

Konietzka sitzt auf einem Stuhl, Claudia an seiner Seite, ihre Lippen sehr rot, er lacht aus dunklem Gesicht.

Ein Supermegagigafasnachtssportler auf dem Bartlithron!

Ein Tor, ein Tor, ein Timotor!

Eingegangen in die Fußballgeschichte ist Timo Konietzka als junger, dynamischer Spieler kurz nach seinem fünfundzwanzigsten Geburtstag. Am 24. August 1963 nämlich, in der allerersten Minute der eben erst gegründeten deutschen Bundesliga, schoss er das allererste Tor.

Die Nonnen flattern: Ein Tor, ein Tor, ein Timotor!

1965 doppelte er nach und schoss wiederum das erste Tor der neuen Saison, diesmal nicht mehr für Dortmund, sondern für 1860 München.

Ein Tor, ein Tor.

Geboren am 2. August 1938 in Lünen im Ruhrgebiet, sei er auf den Namen Friedhelm getauft, Timo heiße ja erst Timo, seit seine Mitspieler ihn, den Stoppelhaarigen, der so sehr dem sowjetischen General Timoschenko geglichen habe, Timo gerufen hätten. Mit 14 bereits habe er Kohle abgebaut, tausend Meter tief in der Erde, fünf Jahre lang, bis man ihn, den Hochbegabten, zu Borussia Dortmund holte.

Mit Dortmund wurde unser Bartlivater 1963 deutscher Meister, mit Dortmund gewann er 1965 den Pokal. Ein Jahr später, 1966, war er wieder Meister, diesmal mit 1860 München. In hundert Spielen der Bundesliga schoss unser Timo 72 Tore, sagenhaft.

Ein Tor, ein Tor, ein Timotor.

Seine Augen sind gelb.

Dass unser Bartlipaar die Fasnacht heiß liebt, wissen wir längst. 1992, am Schmutzigen Donnerstag vor genau zwanzig Jahren, sahen sie sich zum ersten Mal. Und Claudia dachte: Uff, ein Deutscher!

Harter, dreckiger Schnee liegt am Rand der Straßen, es ist 14 Uhr, Timo und Claudia, Blumen neben sich, sitzen in einer hohen Kutsche und winken und winken, der Umzug durchs Dorf, ein Wagen folgt dem andern, besetzt mit Narren, Prinz William, Kate, der Gottschalk, die Hunziker, Timo versucht zu lächeln, ab und zu, wie es Brauch ist, wirft er eine Orange.

Wie geht’s?

Es geht.

Es wird Nacht. Am Vierwaldstättersee, dem Bartlivater 2012 zur Ehre, brennen Fackeln, dann, wie jedes Jahr, der Harligingg, ein hölzerner Fußballschuh auf hohem Scheitersockel, groß und goldig.

Ein Gallensteinchen vielleicht.

Am nächsten Morgen, 5 Uhr, findet Konietzka die Papiere nicht, die ihm der Chefarzt Innere Medizin mitgab. Er sucht im Wohnzimmer, im Schlafzimmer, dann läuft er hinüber zum Ochsen, sucht, findet die Papiere nicht. Schließlich steht der Freund vor dem Haus, der nach Zürich zur Arbeit fährt, Timo küsst Claudia, steigt ein.

Du holst mich doch ab, heute Abend, falls.

Claudia setzt sich an den Tisch, darauf die Hüte vom Vortag, sein roter, ihr blauer, Timos Pulver, WurzelKraft, 17. Februar 2012, 6 Uhr, es ist Freitag.

Vor zwei oder drei Wochen, unterwegs auf der Autobahn Richtung Zug, hat er plötzlich gesagt, he Claudia, fahr nicht so schnell, du bringst uns noch um.

Dann sagte er, wär’ ja egal.

Sie sitzt und raucht.

Timo ist anders geworden, nicht mehr, ohne es zu wollen, so verletzend. Wie damals vor zwanzig Jahren, als er noch in Gersau wohnte und sie ihn besuchte, Nacht für Nacht, und ihm, weil er die so gern hatte, eine Bündner Gerstensuppe kochte – bis er sagte, was anderes als diese Suppe kennst du wohl nicht. Da schmiss sie den Teller zu Boden und lief aus dem Haus – lange her. Seltsam ist er geworden. Ende Januar, eingeladen zu einer Sause namens Ice Snow Football, mit Übernachtung in Arosa, wünschte er, dass sie ihn begleite, sie war krank, wollte nicht mit, Timo sagte, dann gehe ich ganz kurz, höchstens zwei Stunden, ich halte es ohne dich nicht aus. Und bevor sie schließlich zum Arzt fuhr, legte er einen Zettel hin, Guten Morgen meine geliebte Frau. Schönen Tag und Erfolg beim Arzt. Ich telefoniere. Ich liebe Dich.

Jetzt zündet sie eine Kerze an.

Der Herr Konietzka.

Kerzen mag er. Als sie ihn jeweils besuchte, frisch verliebt, beide zweimal geschieden, er Vater eines Kindes, sie Mutter von zweien, standen Kerzen in Flur und Stube und Schlafzimmer, der Champagner im Kübel.

Jetzt, zwanzig Jahre später, liegt er in Zürich auf dem Tisch.

Eigentlich möchte sie beten.

Kurz vor Mittag geht Claudia Konietzka hinüber in ihr Gasthaus Ochsen, Bahnhofstraße 18, sie spricht mit der Köchin, begrüßt die Gäste, Poulet im Chörbli nach Hausart, das Handy wimmert, Vorwahl 044, Zürich.

Es sieht nicht gut aus, es sieht, um ehrlich zu sein, eher schlecht aus, Frau Konietzka, wir taten und wir tun, was wir können, ihr Mann hat Krebs, am besten, Frau Konietzka, Sie kommen sofort.

Claudia dreht sich weg und rennt ins Büro, sie schreit vor Wut, schleudert ihre Schlüssel an die Wand.

Klatskin.

Tumor.

Bösartig.

Gallenganggabel.

Das müsse sie sich, sehr einfach erklärt, so vorstellen: Der linke und der rechte Leberlappen besäßen Gallengänge. Die vereinten sich zu einem noch größeren Gang, dem Ductus hepaticus communis. Die Stelle, wo linker und rechter Gallengang zusammenträfen, nenne man Gallenganggabel oder Hepatikusgabel. Das Karzinom, das Herr Konietzka habe, sei an beiden Gallengängen ausgebildet, links und rechts, Typ IV.

Claudia sitzt vor einem jungen Arzt, Klinik Hirslanden, GastroZentrum, Witellikerstraße 40, und versteht nicht, was sie hört.

Heute Morgen haben wir versucht, Röhrchen, Stents, in die verengten Gallengänge zu schieben.

Und nun?, fragt Claudia.

Nun hoffen wir, redet der Mann, dass die Galle wieder fließt.

Timo liegt im Bett, Zimmer 155, das Gesicht aus Stein, er sagt: Gestern war eine andere Zeit.

Gestern, sagt sie, saßen wir noch in einer Kutsche.

So schnell geht das, sagt er.

Claudia sagt: Draußen riecht es nach Schnee.

Ihre Bilirubinwerte, Herr Konietzka – Bilirubin ist ein Gallenfarbstoff – liegen leider immer noch über 300, normal wären 17, das bedeutet, dass die Galle nicht abfließt.

Bring morgen meinen Kalender mit, sagt er.

Sonntag, 19. Februar 2012, zweite ERC, Endoskopisch retrograde Cholangiopankreatikographie, Disoprivan 1000 mg, Buscopan 40 mg i.v.

Der Arzt sagt, den Stent im linken Hepaticus habe er durch einen größeren ersetzt, den im rechten besser positioniert, die Stauung habe deutlich abgenommen, ein gutes Zeichen.

Und der Krebs?, fragt Konietzka.

Den gehen wir später an.

Claudia sitzt an seinem Bett, Timo fragt: Zu Hause alles in Ordnung?

Heute Mittag ein Bus voller Skifahrer, 47 Leute.

Dritte ERC am 22. Februar 2012, Mittwoch.

Sie zündet Kerzen an und raucht und raucht.

Täglich fährt Claudia von Brunnen nach Zürich, und hält seine Hand.

Verdammte Scheiße!, sagt er.

Seine Haut ist gelb.

Herr Konietzka, sind Sie einverstanden, dass wir Sie morgen in die Klinik Im Park verlegen? Dort sind Chirurgen. Die werden zwei Hohlnadeln durch Ihre Bauchwand führen, perkutan, und zwei Röhrchen setzen, so genannte Drainagen, ein Röhrchen rechts, das andere eher zur Mitte. Dann wird, so hoffen wir, Ihre Galle endlich wieder fließen.

Und wenn ich jetzt nein sage?

Das wäre Ihr Recht, sagt der Arzt.

Vielleicht hätte ich längst nein sagen sollen.

Und die Chirurgen werden gleichzeitig klären, ob eine Operation am Tumor in Frage kommt.

Bilirubin auf 360.

Soll ich dir etwas zu lesen bringen?, fragt Claudia.

Du weißt doch, dass ich nicht lese!

Es ist Freitag, 24. Februar 2012, PTCD, perkutane transhepatische Cholangiodrainage in der Klinik Im Park, Seestraße 90, Zürich.

Claudia sieht zwei Säckchen an seiner Seite, gelbe Flüssigkeit darin.

Jetzt bin ich der, der ich nie werden wollte, flüstert Konietzka.

Dein Sohn hat angerufen, sagt sie.

Mich juckt es am ganzen Körper, sagt er.

Claudia bittet ihre Tochter, Friseurin von Beruf, nach Zürich zu fahren, Klinik Im Park, um Konietzka die Haare zu schneiden.

Dann kann er sich besser kratzen.

Mami, sagt die Tochter, ich weiß, dass du an solche Dinge nicht glaubst: Heute sah ich den Tod an Timos Bett sitzen.

Konietzka schickt Claudia eine SMS: Du riechst wunderbar.

27. Februar 2012, wieder eine PTCD, perkutane transhepatische Cholangiodrainage, Bilirubin unverändert.

Diese gottverdammten Säcke da, links und rechts.

Konietzka schmerzt der Bauch. Er liegt vor dem Fernseher und schaut nicht hin. Sie hält seine Hand, er zieht sie weg.

Es sieht eher schlecht aus, Frau Konietzka, ihr Mann hat Krebs. Claudia schreit vor Wut, sie schleudert ihre Schlüssel an die Wand. Klatskin. Tumor. Bösartig. Gallenganggabel

Dein Bruder hat angerufen, sagt sie.

Wieso ruft der dich an und nicht mich?

Endlich Morphium.

Herr Konietzka, es kann sein, dass eine der Drainagen verrutscht ist, durch Ihre Atembewegungen.

Claudia bringt Fotos vom Schmutzigen Donnerstag, er unter rotem Filz, sie unter blauem, sie lachen und winken, Timo legt die Bilder weg.

Bilirubin auf 247, Montag, 5. März 2012, Konietzka ruft Claudia an, sie versteht ihn kaum: Bitte hol mich nach Hause.

Er reicht den Ärzten die Hand, dann steigt er in Claudias Wagen, die Säckchen auf dem Schoß, sie will nicht weinen, redet vom Ochsen, der neuen Kellnerin.

Dortmund liegt bereits sechs Punkte vor Bayern, sagt sie.

Sieben, sagt er.

Sie hilft ihm aus dem Auto, dann gehen sie hinauf in ihre Wohnung, Hand in Hand, Dammweg 9, Brunnen am Vierwaldstättersee.

Sag mir, was dir guttut, sagt Claudia.

Am Nachmittag steht der Hausarzt am Bett, er prüft die Drainagen, die Säckchen, und lehrt Claudia, eine Spritze zu füllen, Morphium in Konietzkas Bein zu drücken.

Sag mir, wenn du Schmerzen hast.

Sag mir, was du willst.

Ein Poulet im Chörbli.

Sie gehen früh schlafen, er hält ihre Hand, sie hört ihn atmen, irgendwann, als kein Licht mehr durchs Fenster fällt, sagt er: Claudia, ich will sterben.

Ja, sagt sie.

Sie weiß nicht, was sie sagen soll.

Dann rufen wir morgen Exit an, sagt Claudia.

Die Nummer steht in meinem Kalender.

Donnerstag, 8. März 2012, Claudia Konietzka sitzt im Wohnzimmer am runden Tisch, darauf die Hüte aus einer anderen Zeit, und wartet, bis es 9 Uhr ist.

043 343 38 38

Jemand fragt: Ist es sehr dringend?

Eine halbe Stunde später ruft ein Mann zurück, er sei Freitodbegleiter von Exit, er könnte, wenn gewünscht, am Nachmittag nach Brunnen kommen, Ankunft am Bahnhof um 14.03 Uhr.

Ich hole Sie ab, sagt Claudia Konietzka.

Eine schwarze Mappe werde er tragen, erklärt der Mann, und er bitte sie, vom Arzt ihres Mannes eine Bestätigung zu verlangen, möglichst schnell, dass er, ihr Mann, urteilsfähig sei – und vom Spital eine Diagnose, am besten einen Austrittsbericht.

Mein Mann hätte, sagt Claudia, noch zwei Monate zu leiden. Seine Füße jucken, die Arme, der Hals, sie reibt Öl in seine Haut, zieht ihm warme, weiche Socken an.

Er sei einst Arzt gewesen, sagt der Freitodbegleiter, nun pensioniert, er stamme aus Italien, in Italien, der Mann lacht, würde er, wenn man dort wüsste, was er hier tue, erschossen.

Herr Konietzka, wo möchten Sie sterben?

In meinem Bett.

Im Schlafzimmer?

Ja, sagt sie.

Darf ich Ihr Schlafzimmer sehen?

Gibt es einen Raum, wo ich das Sterbemittel in Wasser auflösen kann, fünfzehn Gramm NaP, Natriumpentobarbital?

Das Sterbemittel müssen Sie, Herr Konietzka, zwingend aus eigener Kraft zu sich nehmen, danach werden Sie müde sein, schläfrig, Sie werden das Bewusstsein verlieren und nach wenigen Minuten in einen komaähnlichen Tiefschlaf fallen, dann setzt irgendwann Ihre Atmung aus, Ihr Herz.

Das Sterbemittel wird sehr bitter sein, deshalb rate ich, vielleicht zwanzig Minuten davor ein Magenberuhigungsmittel einzunehmen, das Sie von mir bekommen, ein Mittel gegen Erbrechen, Paspertin.

Und essen Sie vor dem Sterben nicht zu üppig, trinken Sie keinen Schwarztee, keinen Kaffee, keinen Fruchtsaft.

Aber Champagner?, fragt Konietzka.

Dann rattert das Faxgerät, 15.51 Uhr, der Austrittsbericht der Klinik Im Park, zehn Seiten: Bei Herrn Konietzka liegt leider ein sehr fortgeschrittener Klatskintumor vom Typ IV mit Infiltration praktisch sämtlicher Ostien zweiter Ordnung der Segmentgallengänge in beiden Leberlappen vor. Das einzig theoretisch mögliche operative Vorgehen bestünde in einer erweiterten Hemihepatektomie links und Anlage einer biliodigestiven Anastomose auf die Segmentgallengänge VI und VII. Dieses Vorgehen ist aber wahrscheinlich nicht umsetzbar, da die versorgende Leberarterie sehr nah an der Haupttumormasse vorbeizieht und höchstwahrscheinlich tumorinfiltriert ist.

Wann möchten Sie sterben?

Möglichst bald.

Er werde, sagt der Fremde, das Sterbemittel bei einer Apotheke sofort bestellen, aber es vielleicht am Montag erst bekommen.

Nach reiflicher Überlegung mache ich heute von meinem Recht Gebrauch, selbst über die Beendigung meines Lebens zu bestimmen, Brunnen, 8. März 2012, Timo Konietzka.

Nachts liegen sie wach, sie neben ihm, seine Hand ist heiß, Claudia hört ihn atmen, Timo kratzt sich an Hals und Kopf.

Ich lege mich aufs Sofa, sagt sie, dann kannst du schlafen.

Er folgt ihr ins Wohnzimmer, sie fragt: Ein Bierchen?

Claudia holt zwei Flaschen, sie trinken und schweigen.

Die zwanzig Jahre mit dir waren meine besten, sagt Timo.

Die zwanzig Jahre mit dir waren auch meine besten.

Dann sind wir uns ja einig, sagt er.

Timo, falls du dann zu zucken oder zu röcheln beginnst, ich glaube, ich halte das nicht aus.

Dann geh raus, geh eine rauchen.

Timo, meine Tochter, als sie dir im Spital die Haare schnitt, sah den Tod an deinem Bett, einen Engel oder was.

Blödsinn.

Timo, du wirst mir doch, wenn du drüben bist, ein Zeichen geben.

Es gibt kein Drüben, und wenn doch, gebe ich dir extra kein Zeichen.

Sie küsst ihn auf den Mund.

Der Herr Konietzka aus dem Kohlenpott.

Ich will keine Feier, keine Lieder, kein Geheule, kein Grab, gar nichts.

Sie lehnt ihren Kopf an seine Schulter, er sagt, eigentlich bereue er in seinem Leben zwei Dinge. Dass er damals, am achten Spieltag der Saison 1966/67, 1860 München gegen Dortmund, den Schiedsrichter ins Schienbein trat und ihm die Pfeife stahl. Und dass er den Bundestrainer erpresste, er, Konietzka, spiele in der Nationalmannschaft nur, wenn auch sein Freund dort spiele. Worauf man ihn nicht zur Weltmeisterschaft nach England mitnahm.

Sonst nichts?, fragt sie.

Dass ich dir nie sagte, wie unendlich schön du bist.

Es ist nie zu spät, sagt Claudia.

9. März 2012, Freitag, der Freitodbegleiter ruft an, er komme am Montag wieder, früher Nachmittag, bis dann sei alles Nötige beisammen.

Ich hole Sie am Bahnhof ab.

Das brauchen Sie nicht, sagt der Mann.

Immer Richtung See, nach der Drogerie rechts.

Konietzka greift zum Kalender und trägt ein: 12. 3. 2012: 14:00 EXIT.

Lass uns, sagt Claudia, eine Todesanzeige schreiben: Timo Konietzka, 2. August 1938 bis 12. März 2012. Liebe Freunde! Ich möchte mich an dieser Stelle ganz herzlich bei Exit bedanken, die mich am Montagnachmittag von meinen Qualen erlöst und auf dem schweren Weg begleitet haben. Ich bin sehr froh! Traurig bin ich nur, weil ich meine Claudia, meinen Sohn und seine Frau und unsere Kinder und geliebten Enkelkinder verlassen muss. Macht alle das Beste aus Eurem Leben! Meines war lang und doch so kurz! Diese Anzeige gilt als Leidzirkular. Die Trauerfeier findet im engsten Familienkreis statt. Bitte keine Kondolenzen. Wir hoffen auf Euer Verständnis. Das ist mein Wunsch.

Jetzt blättern sie durch Alben und wählen ein Foto aus, ein Bild für die Todesanzeige, Timo vor den beiden Mythen, Schwyzer Voralpen, die Schweizer Fahne im Hintergrund, das Schweizer Kreuz als Krawattenknopf.

Diese beschissenen Röhrchen im Bauch, die reiße ich jetzt raus.

Erst wenn du gestorben bist, sagt sie.

Er lacht.

Morphium?

Konietzka möchte zwei Freunde einladen, beim Sterben dabei zu sein, einen Elektriker, einen Treuhänder, Claudia ruft sie an, es ist Samstag, 10. März 2012, sie hat wenig geschlafen.

Timo, wenn du vielleicht nicht sterben willst, dann stirb nicht!

Stirb nur, bittet sie, wenn du sterben willst!

Ich will, sagt Timo, ich will, Claudia, ich will, ich will, schau mich an, wie gelb ich bin, ich hab Löcher im Bauch, Krebs, Schmerzen, ich will.

Das Resultat kennen wir morgen, sagt der Arzt, am besten, Herr Konietzka, Sie kommen mit Ihrer Frau

In Ordnung, sagt Claudia Konietzka und dreht sich weg.

Der Hausarzt beugt sich zu den Drainagen, die Bestätigung, dass er ihn, Timo Konietzka, für urteilsfähig halte, habe er heute Morgen an Exit gefaxt.

Er reicht Timo die Hand.

Wir sehen uns nicht wieder.

Am Montag ist Schluss, sagt Konietzka, danke.

Eigentlich schade, sagt der Arzt, am Dienstag spielt Basel in München.

Bayern gewinnt – wenn nicht, lasse ich von mir hören.

Am Nachmittag reist Konietzkas Sohn mit seiner Frau aus München an, die Frau, eine Juristin, stellt Fragen, in der Schweiz, sagt Claudia, sei Freitodhilfe erlaubt unter der Bedingung, dass der Mensch, der sterben wolle, das Mittel, das ihn töte, mit eigener Kraft noch zu sich nehme. Der Sohn sitzt neben Timo vor dem Fernseher, Samstagabend, Bundesliga.

Der Sohn weint, als er ins Auto steigt, Sonntag, 11. März 2012.

Die letzte Nacht.

Morphium.

Sie liegt in seinen Armen, seine Brust ist heiß.

Wenn du möchtest, rühr’ ich dir morgen einen Sirup an.

Einen Sirup?

Das Gift ist so bitter.

Claudia erwacht in der Nacht, Timo, rasiert und gekämmt, steht neben dem Bett.

Es ist 2 Uhr. Wann kommen die Leute?

In zwölf Stunden erst, sagt sie.

Er legt sich neben sie, tastet nach ihrer Hand.

Kurz vor sechs, Montag, 12. März 2012, fährt Claudia ins Nachbardorf, dort ist ein Bäcker, der seinen Laden früh öffnet, sie kauft zwei frische Brote, eines mit Körnern, eines ohne, heute geht er, was mache ich ohne ihn?, ihr Engel dort drüben, was bin ich ohne ihn? Claudia möchte weinen, das darfst du jetzt nicht, nachher erst, wenn er fort ist.

Er isst drei Scheiben von jeder Sorte, Claudia öffnet eine Flasche Champagner, Dom Pérignon, er trinkt drei Gläser, sie ein halbes.

Was kann ich für dich noch tun?

Sie warten auf dem Sofa, Dammweg 9, Timo greift sich in den Nacken und löst die goldene Kette vom Hals, die Claudia ihm einst schenkte, legt sie ihr um.

Die brauch’ ich nicht mehr.

Jetzt weint sie plötzlich laut, er streichelt ihr Gesicht, trocknet ihre Augen.

Gegen 11 Uhr bittet Claudia die Köchin im Ochsen um zwei Schweinsfiletpiccata mit Risotto, kleine Portionen.

Danke für alles, sagt er.

Gern geschehen kann ich jetzt nicht sagen, sagt sie.

Ins Schlafzimmer stellt sie drei Kerzen, eine links neben die Betten, eine rechts, die dritte vor den Spiegel, dann hilft sie Konietzka in ein Sennenhemd, grau und kragenlos, sie zieht ihm neue weiche Socken an, die Thermounterwäsche, die er am Schmutzigen Donnerstag trug.

Scheißwarterei, sagt er.

Irgendwann treffen die Freunde ein, der Elektriker, der Treuhänder, die Köchin aus dem Ochsen, Claudia schenkt Kaffee aus, dann Dom Pérignon.

Danke, dass ihr da seid an meinem letzten Tag.

Claudia stellt Musik an, Bach.

Deutschland wird Europameister, sagt der Elektriker.

Das Telefon schellt, die Zeitung Blick, ob es stimme, dass Timo Konietzka tot sei.

Und wie!, lärmt Timo.

Claudia, ihre Lippen sehr rot, gießt Himbeersirup in ein Glas, sie füllt es mit Wasser, rührt um, rührt um.

Jetzt dürfte der endlich kommen!, sagt Timo.

Er kommt um drei, eine schwarze Mappe in der Hand, man plaudert und schweigt.

Also!, sagt Konietzka und steht auf.

Erwin Koch, 56, ist Schriftsteller und vielfach ausgezeichneter Journalist. Er lebt in der Schweiz. Timos Geschichte ließ er sich von Claudia Konietzka, Timos Frau, im Mai 2012 erzählen