Eier gegen Strauß: Wirf, Murtaza, wirf!

Murtaza Cömert, Sohn türkischer Gastarbeiter, attackierte 1979 in Essen Franz Josef Strauß und floh danach aus Deutschland. Und dann?

Kein Mensch verlässt wegen ein paar Eiern das Land. Oder doch? Bild: dpa

ISTANBUL taz | Gebäude acht, erster Stock, Zimmer zwei: im Darülaceze, dem Istanbuler Armenhaus, an der gleichnamigen Straße, erbaut 1895 von Sultan Abdulhamit II., wohnt Murtaza Cömert – querschnittsgelähmt, mit Hepatitis C infiziert.

Zwei bewaffnete Männer bewachen den Eingang des Komplexes, das einem kleinen Dorf gleicht. Verstoßene Prinzessinnen sollen im Darülaceze gelebt haben, vergessene Komponisten und Maler. Im April 2013 aber sind es 26 Waisenkinder und 524 Erwachsene. Von denen ist Murtaza Cömert mit 53 Jahren der Jüngste.

Seit 18 Jahren teilt er mit vier Männern das Zimmer mit den kühlen Fliesen, den grünen Wänden. Drei Kanarienvögel fliegen zwitschernd über die Betten, sechs Fische schwimmen im Aquarium. An der Wand hängt ein einziges Bild. Darauf: eine alte Frau. Cömert hat es aus der Zeitung geschnitten. Sie erinnere ihn an seine Großmutter, sagt er.

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„Seien Sie doch so nett, nachzusehen, was es heute zum Frühstück gibt“, fragt Cömert mit tiefer, rauchiger Stimme den Pfleger, der wie er in Deutschland gelebt hat. Wortlos reicht der ihm ein Schüsselchen: acht grüne Oliven mit Sardellen gefüllt, dazu zwei dünne Scheiben Käse. „Mehr brauche ich nicht.“

Hoffen

Christen, Muslime und Juden leben im Darülaceze, im Hof stehen Kirche, Moschee und Synagoge. Seit Stunden dreht sich dort ein Mann im Kreis, die türkische Flagge schwingend. Eine Frau wiegt eine Plastikpuppe in den Schlaf. Es weht ein leichter Wind. „Schließ das Fenster, ich darf mich nicht erkälten.“

Zehn Jahre hat Cömert in Deutschland verbracht. Es waren prägende Jahre. Sie endeten – in einer Nacht. „Mit einer Jugendsünde“, sagt er.

Murtaza, warum musstest du fliehen aus Deutschland? „Weil ich politisch war.“ Mehr als dreißig Jahre hat er keine längere deutsche Unterhaltung geführt, er entschuldigt sich, wenn ihm die Worte nicht einfallen – dabei spricht er noch ohne Akzent.

1960 wurde Cömert geboren, an welchem Tag, egal. Er nennt den 1. Januar. Das Dorf seiner Kindheit: Kizilca Ova. Rötliches Tal. Vierzig Familien lebten hier, zwischen kargen Büschen und dem Dunst blökender Schafe. Er verließ das Dorf als Zehnjähriger, folgte seinen Eltern nach Deutschland, nach Herne. Der Vater arbeitet dort in einem Kohlekraftwerk, ein Gastarbeiter, wie viele. In Herne nennen ihn alle Mustafa, das sei leichter auszusprechen. „Ich war der Kümmeltürke, der Eselreiter.“ Er ist das älteste von drei Kindern.

Sein erster Jugendfreund heißt Abramo, Sohn italienischer Einwanderer. Mit ihm und dem älteren Roberto hört er stundenlang Beatles. Später meldet sein Vater ihn im Ringerverein an. „Ich war ein frühreifes Kerlchen. Ein kleiner, dünner Junge unter lauter Muskelprotzen. Die vielleicht glücklichste Zeit in meinem Leben.“

Cömert interessiert sich für Philosophie, wälzt Bücher, will mehr über die Schöpfung erfahren, rätselt, ob es Gott gibt. In Deutschland lässt er sich taufen, weil er sich in eine Christin verliebt. Karina. 15 Jahre alt ist er da. Dann kommt Iris, die letzte Freundin heißt Annett. „Am liebsten hatte ich Bettina, eine Deutsche mit pechschwarzen Haaren und blauen Augen.“

Engagieren

Rechts neben ihm der Aschenbecher, ein Knäuel fuchsroter Tabak, der Teekocher, der zischt. Cömert, mit dem Rücken zum Fenster, schaut auf den Fernseher: „Meine erste Aufgabe hier ist es, mich zu informieren.“ Bücher stapeln sich auf dem Fensterbrett. „Die Lügen des israelischen Geheimdienstes“, ein deutsch-türkisches Wörterbuch, eine Enzyklopädie. Cömert öffnet sie, zeigt auf Länder, in denen er nie war. Bolivien, Myanmar, Neuseeland. Er hat sie in Gedanken bereist, tausendmal. „Ich mag Europa nicht und doch fühle ich mich deutsch.“

Nach der Schule arbeitet Murtaza bei Seppelfricke, einer Elektromotorenfirma in Gelsenkirchen, wo auch seine Mutter am Fließband schuftet. Nach zwei Jahren schmeißt er hin. Mit dem Vater, dem harten Wortführer, hat er Probleme, er haut von zu Hause ab, reist quer durchs Land, wohnt mal dort, mal da. Er nimmt an Demonstrationen teil, in Wuppertal, Berlin, Frankfurt. Besetzt mit einer Gruppe stillgelegte Fabriken.

„Die wollten sie abreißen, wir wollten Wohnraum daraus machen.“ Er raucht Haschisch, nimmt LSD. „Zwanzig bis dreißig Mal, aber ich war nie süchtig.“ Längst ist er politisch aktiv, seine Freunde: RAF-Sympathisanten, wichtige Leute. Ulrike Meinhof verehrt er. „Leider habe ich sie nie kennengelernt.“ Engagiert war er immer schon. „Gegen Ungerechtigkeiten. Und manchmal war ich angriffslustig.“ Welche Gruppen waren es, denen du dich angeschlossen hat? „Es liegt alles so lange zurück. Quäl mich nicht, bitte.“

Sein größter Traum, ein Jurastudium. Vielleicht in Frankfurt. „Ich wollte Anwalt werden, kein Richter.“ Cömert trägt ein Che-Guevara-Tattoo auf dem linken Arm, es ist leicht verblasst, eine Frau hat es ihm auf einer Party in Deutschland gestochen, da waren alle schon angetrunken. Er küsst sein Idol, den Südamerikaner, hält die Hand zur Faust geballt in die Höhe. „Ich war angstlos. Der einzige Hitzkopf. Die deutsche Linke hat mich benützt. Murtaza, wirf doch du.“

Aufbegehren

Was genau geschah in jener Nacht? Erzähl. Kein Mensch verlässt wegen ein paar Eiern ein Land. Oder doch? Es ist der 14. September 1979. Kommunalwahlkampf in Essen. Zur Unterstützung lädt die Essener CDU Franz Josef Strauß ein, Kanzlerkandidat im darauf folgenden Jahr. Siebzig junge Linke, darunter Cömert, schreien Parolen gegen Strauß, bewerfen ihn mit Eiern und Tomaten. Cömert will nicht nur Eier werfen. Er geht auf Strauß zu.

Von den Dächern herab fotografieren Polizisten, wie der junge Türke den alten Bayern auf dem Burgplatz attackiert. Sie nehmen mehrere Menschen fest, darunter einen Spanier, sie verhören Cömerts Freundinnen. In den Abendnachrichten ist es das Ereignis des Tages.

Er ruft die Mutter an. Komm nicht nach Hause, Murtaza! Sie suchen dich. Er ist kein Deutscher wie seine Freunde, er ist Migrant. Also klemmt er sich ein paar Klamotten unter den Arm, macht sich davon, verlässt das Land. „Die Frauen sollten die Welt regieren, die Mütter! Keine Mutter würde ihr Kind gerne in den Krieg schicken. Wieso hab ich nicht auf meine Mutter gehört? Geh nicht in die Türkei. Tauch eine Weile unter, mehr nicht.“

Und also die Türkei. Zwanzig Jahre und ein paar Monate ist er alt. Statt zwischen Jurastudenten in einer deutschen Universität sitzt er auf den Steinen vor seinem Dorf und hütet Schafe. In der Heimat kann er den Militärdienst nicht mehr länger aufschieben, ein Anarchist unter Soldaten; der Militärputsch von Kenan Evren, der dritte in der Türkei, fällt in diese Zeit.

Stranden

Nach 18 Monaten Dienst kehrt Cömert zurück ins Dorf. Aber es ist unmöglich für ihn, dort zu leben. Er pendelt zwischen Kizilca Ova und Ankara, kommt in der Gesellschaft nicht an. „Ich habe die Welt mit europäischen Augen sehen gelernt.“ Cömert geht an die ägäische Küste, arbeitet als Touristenführer in Pamukkale. Die Abende sitzt er in Bars und trinkt mit den europäischen Gästen. Zwei, drei Jahre vergehen und er zieht weiter, diesmal nach Izmir.

Er sieht Gewerkschafter, die gegen die Polizei demonstrieren, er will sich ihnen anschließen. Er lässt es bleiben, es ist nicht sein Kampf. „Wofür Mensch werden? Wozu bist du auf der Welt? Ich habe gar nichts gemacht, ich habe nicht mitwirken können. Das einzige: Als Fremdenführer habe ich Menschen mit meiner Heimat bekannt gemacht.“

Dann, der Unfall. Er führt Touristen durch die Festung von Izmir, ist einen Moment unaufmerksam, stürzt in die Tiefe. Monatelang liegt er im Koma. Als er aufwacht, weiß er noch, wie er heißt, mehr nicht. Sein Rücken ist gebrochen, er kann nie wieder gehen. „Ob ich in der Hölle oder auf dieser Welt gelebt habe, macht für mich keinen Unterschied.“

Viele Operationen folgen, bei einer wird ihm Blut übertragen und Hepatitis C. Er kann nicht mehr arbeiten. „Ich wollte nach Deutschland zurück, aber zu wem?“ Die Eltern sind wenige Jahre nach ihm in die Türkei zurückgekehrt. Zu den Geschwistern, deutsche Staatsbürger mittlerweile, hat er erst wenig Kontakt, dann keinen mehr. „Ich brauche niemanden, es mangelt mir an nichts.“

Nach dem Unfall war er weitergezogen, wieder einmal. Diesmal im Rollstuhl. Er landete in Istanbul, kam bei Bekannten unter. Irgendwann bei niemandem mehr. „Ab ins Obdachlosenheim, es war die beste Entscheidung.“ Er war 35 Jahre alt. Über seinem Bett hängt ein Bild, es zeigt Cömert am Tag der Ankunft im Armenhaus. Schmales Gesicht, eingefallene Wangen, müde lächelnd, ähnlich wie heute, nur mit schulterlangem Haar.

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