Ostgrenze der Europäischen Union: Die endlose Suche nach dem Ausweg

„Die Balten wussten sofort, wohin sie gehören“, seufzt der IT-Spezialist Vitalie Cirhana. „Wir in Moldau wissen das nach 25 Jahren immer noch nicht.“

Der bronzene Rotarmist erinnert, Chisinau überschauend, an die Befreiung der Stadt im 2. Weltkrieg. Bild: imago/ecomedia/robert fishman

CHISINAU taz | Auf dem weißen Kalksteinplateau, das sich hoch über dem Flusstal erhebt, ist nur das Zirpen der Grillen zu hören. Plötzlich jedoch ertönt ein leises Blöken, das schnell lauter wird. Wie aus dem Nichts taucht eine wohl hundertköpfige Schafherde auf. Schafe mit langem, dichtem Fell, die der Schäfer den fast senkrecht abfallenden Hang hinab zum Tränken treibt. Doch schon Minuten später verschwindet die Herde, und es ist wieder still auf dem Kalksteinplateau von Cricova.

Der Kalkstein ist es, der Cricova, eine Kleinstadt 15 Kilometer nördlich von Chisinau, berühmt gemacht hat. Denn mit dem weißen Stein wurde die Hauptstadt Moldaus nach der fast vollständigen Zerstörung im Zweiten Weltkrieg aufgebaut. In Cricova entstanden dabei 120 Kilometer lange Gänge mit einer fast hundertprozentigen Luftfeuchtigkeit, die sich, so stellte sich bald heraus, hervorragend für die Lagerung von Wein eignen.

Heute ist Cricova nicht nur das berühmteste Weingut Moldaus, sondern es hat auch einen der größten Weinkeller weltweit. Die Reste der Weinsammlung Hermann Görings, die die Rote Armee erbeutete und erstaunlicherweise nicht ganz austrank, werden bis heute hier gelagert. 2002 feierte Wladimir Putin hier in einem unterirdischen Festsaal seinen fünfzigsten Geburtstag.

Doch vier Jahre später fand der russische Präsident plötzlich keinen Gefallen mehr an Cricova. Moldau wurde der Export von Weinen nach Russland verboten. Eine Strafmaßnahme, die Moskau jetzt wiederholt, weil die Regierung in Chisinau das Assoziierungsabkommen mit der EU unterzeichnen möchte. Wein ist eines der wichtigsten Exportgüter Moldaus, 25 Prozent der 3,5 Millionen Einwohner sind im Weinbau beschäftigt.

Champagner in Handarbeit

Sergiu Budeci, Exportmanager bei Cricova, sieht den Boykott gelassen. Nur eine Million Flaschen von jährlich insgesamt 15 Millionen würden nach Russland exportiert. „Wir Moldauer trinken unseren Wein am liebsten selbst. Und wir haben schon beim ersten Boykott 2006 begonnen, neue Absatzmärkte zu suchen – in der EU natürlich.“ Wer gesehen hat, wie in den Kellern von Cricova die Arbeiterinnen in ihren rosa Kitteln den Champagner praktisch in Handarbeit abfüllen, kann sich nur schwer vorstellen, dass man damit in der EU konkurrenzfähig sein kann. Doch die Keller sind heute vor allem Touristenattraktion.

Erst vor wenigen Tagen wurde in Cricova eine neue Abfüll- und Verpackungsstraße in Betrieb genommen. Es ist so ziemlich das Modernste, was auf dem Markt ist. Italienische Fachleute haben sie installiert, die EU hat Geld dazugegeben und es ist Budeci anzumerken, wie stolz er darauf ist. Mit seinem Weinboykott, so scheint es, hat Putin das Gegenteil erreicht.

Aber vielleicht ging es ihm ja auch um etwas ganz anderes. Denn es gibt eine Region in Moldau, der gestattet wurde, ihren Wein weiterhin nach Russland zu liefern: Gagausien. Die 160.000 Einwohner in der Autonomen Region im Süden des Landes gehören zu einer turksprachigen Minderheit. Seit der Annexion der Krim werden auch hier die Forderungen nach noch größerer Autonomie lauter. Und so hat Moldau neben Transnistrien, das schon seit 1990 den Anschluss an Russland sucht, nun seine zweite Krisenregion. Und dann sind da noch die jüngsten Meinungsumfragen, wonach nur etwa die Hälfte der Bevölkerung für die Assoziierung mit der EU ist. Kann Moldau für Putin zur leichten Beute werden?

Vitalie Cirhana ist Direktor von „Millennium“, einem „Trainingscenter“, das im Jahr 2000 gegründet wurde und unter vielem anderen auch einen Studentenaustausch zwischen Deutschland und Moldau organisiert. Der 36-jährige IT-Dozent hat Kontakte in ganz Europa und kann gut Vergleiche ziehen. „Die Letten sind sich sicher, dass sie zu EU und Nato gehören wollen. Wir dagegen wissen nach 25 Jahren immer noch nicht, wohin wir gehören. Die weniger gut Ausgebildeten zieht es nach Russland, die gut Ausgebildeten in die EU.“

„Westliche Einflüsse“ – Gay Pride in Chisinau im Mai 2014. Bild: dpa

Einen der Gründe für das Zurückbleiben Moldaus sieht Vitalie in der Kommunistischen Partei. Das ganze erste Jahrzehnt des neuen Millenniums war sie mit manchmal über 50 Prozent die stärkste Partei und könnte nach den Parlamentswahlen im Herbst die liberalkonservative Regierung erneut ablösen. Die KP Moldaus spricht sich nicht direkt gegen die Assoziierung mit der EU aus, doch macht sie gemeinsam mit der orthodoxen Kirche und einflussreichen Russen Stimmung. „Die Priester predigen von der gottlosen EU, in der Kreuze verboten werden und die Schwulenehe erwünscht ist“, erzählt Vitalie Cirhana.

Moldava gilt Statistiken zufolge als eines der ärmsten Länder Europas. Statistiken sind das eine. Ökonomen vermuten, dass das tatsächliche Bruttoinlandsprodukt doppelt so hoch ist wie das statistische. Dass dies nicht übertrieben ist, macht jeder Tag in der 700.000 Einwohner zählenden Metropole deutlich. Da sind die unzähligen Wechselstuben, in denen Geld ohne Belege getauscht wird. Da sind Hunderte von Minibussen, in denen dem Fahrer die Geldscheine einfach in die Hand gedrückt werden. Und da ist der Zentralmarkt, dem die alten Hallen schon lange nicht mehr genügen und der von immer mehr Straßen Besitz ergreift. Das ganze historische Zentrum von Chisinau scheint ein einziger Markt zu sein, der nie zur Ruhe kommt. Dies ist die zweite Ökonomie, die an jeder Statistik vorbeigeht.

„Visafrei“ lautet der Ruf

Der schönste und ruhigste Platz in Chisinau ist der Kathedralenpark mit dem Metropolitansitz der Moldauisch-Orthodoxen Kirche. Die Blumen sind gesprengt, die Gehwege gefegt – welch Unterschied zu den staubigen Straßen voller Schlaglöcher, die vom Zentralmarkt hierher führen. Gegenüber dieser Oase hat der Ministerpräsident Moldaus seinen Amtssitz. Auch dieses Gebäude wurde aus Kalkstein erbaut und ist so groß, dass man meinen könnte, Moldau habe nicht 3,5, sondern 35 Millionen Einwohner. Vor dem Regierungssitz stehen riesige Transparente, die den Beginn einer Epoche ankündigen. „Ab dem 28. April ohne Visum“, steht da. Denn Moldaus Regierungschef Iurie Leanca hat es noch vor der Ukraine geschafft: die visafreie Einreise seiner Bürger in die EU.

Für all jene, die an diesem Morgen auf den Bus ins rumänische Iasi warten, ändert sich wenig. Schon bisher galten für die Bürger Moldaus bei der Einreise in das Nachbarland erleichterte Bestimmungen. Und die Verkehrsverbindungen in das 130 Kilometer entfernte Iasi sind schon lange ganz besonders gut. Schließlich waren beide Städte mehr als 500 Jahre lang Teil des Fürstentums Moldau. Dies ist bis heute nicht vergessen, selbst bei jungen Leuten, die sich zu beiden Seiten der Grenze als Moldauer bezeichnen. „Wir Moldauer sprechen ein Rumänisch, das sich vom Rest Rumäniens unterscheidet“, erzählt die 31-jährige Adela Trofin in Iasi. Sie hat einige Freunde und Bekannte aus Chisinau, die hier in Iasi studieren, war jedoch selbst noch nicht dort. Was vor allem daran liegt, dass die Grenzbeamten sie mit ihrem Mountainbike nicht hinüberlassen wollten.

Adela Trofin hat vor kurzem Slow Food Iasi gegründet und die Genießerbewegung zählt in der Universitätsstadt mit ihren 270.000 Einwohnern „zwanzig zahlende Mitglieder“. Slow Food kämpft derzeit um eine traditionelle Moldauer Spezialität: Die Pelincile Domnului – ganz besonders süße Pfannkuchen, die mit zerstoßenem Hanfsamen gefüllt werden.

Doch den Anbau von Hanf möchte die rumänische Regierung unterbinden. In Iasi, das mit seinen Alleen und weiten Plätzen im Unterschied zu Chisinau so ungemein friedlich wirkt, kümmert sich jedoch nicht nur Slow Food um gutes Essen. In den letzten Jahren sind unzählige NGOs entstanden, die sich Themen wie „Veggie-Day“ oder „Leben ohne Plastik“ verschrieben haben. Rumänien gehört ebenfalls zu den ärmsten Ländern Europas. Dennoch kann man genau hier deutlich machen, was der EU-Beitritt verändert hat. Während die Bauern in Moldau ihr Trinkwasser mit Eimern und Kanistern vom Brunnen holen, verwendet man in Iasi spezielle Filter, um den Geschmack des Wassers zu verbessern.

Großrumänische Träume

Auch wenn Adela Trofin das „alte“ historische Moldau als ihre Heimat bezeichnet, hält sie doch gar nichts davon, dass es rumänischen Politiker vor Wahlen immer mal wieder einfällt, laut über eine „Wiedervereinigung“ beider Länder nachzudenken. „In Zukunft“, sagt Adela, „wird es egal sein, ob jemand aus Chisinau, aus Berlin oder dem Kongo kommt. Es wird darum gehen, was für Menschen wir sind.“

Sieht man dies in Chisinau genauso? Am Kathedralenpark hat eine kleine Weinbar eröffnet. Sie ist so etwas wie eine Oase in der Hektik und trägt dazu noch den Namen „Carpe diem“. Darüber hat das Weingut „Et cetera“ sein Büro. Im Unterschied zu Cricova bewirtschaftet das Familienunternehmen nicht 600, sondern nur 43 Hektar, und selbst die sind Alexandru Luchianov noch zu viel. Der 35-Jährige will weg von den internationalen Rebsorten und hin zu regionalen Trauben. Er will die traditionellen Weindörfer erhalten und ist sicher, dass Moldau mindestens so gute Weine wie Rumänien herstellen kann.

Und auch bei der Politik hält es Luchianov, der aus einer rumänisch-russischen Familie stammt, wie beim Wein. „Moldau soll sich weder an Russland noch an der EU orientieren, sondern an sich selbst“, sagt der Winzer und fügt hinzu: „Jeder Einzelne muss Verantwortung für unsere Zukunft übernehmen. Wegdrücken geht nicht.“ Slow-Food-Gründerin Trofin könnte dem sicher zustimmen.

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