Spiele statt Brot

PROTEST Wie Brasiliens Regierungen über alle Jahrzehnte bis heute den Fußball für ihre Zwecke zu nutzen wussten

■ 1961 als Enkel italienischer und portugiesischer Einwanderer in Cataguases im Bundesstaat Minas Gerais geboren. Sein Vater arbeitete als Popcorn-Verkäufer, seine Mutter war Wäscherin.

■ Bevor Ruffato Journalismus studierte, arbeitete er als Verkäufer, Textilarbeiter und Schlosser. Heute gilt er als einer der wichtigsten zeitgenössischen Schriftsteller Brasiliens.

■ Seine Bücher erscheinen in Finnland, Frankreich, Italien, Portugal, Argentinien, Kolumbien, Kuba, Mexiko, den USA und Deutschland.

VON LUIZ RUFFATO

Das Bild Brasiliens war schon immer mit Fußball verbunden. Fröhlich, friedliebend, unbekümmert und liberal entfalten wir auf dem Rasen unseren Zauber, verbinden die im Training erworbene Technik mit der Spontaneität der Bolzplätze. Da spielt es keine Rolle, dass wir als siebtgrößte Wirtschaftsmacht der Welt und mit einem Bruttoinlandsprodukt von 2,2 Billionen US-Dollar auch bei der Ungleichverteilung der Einkommen weltweit an sechster Stelle stehen.

Patriotismus ebnet scheinbar alle Unterschiede ein: Reich und arm, schwarz, weiß, indigen, aus dem Süden oder dem Norden des Landes stammend, feiern wir in den Nationalfarben unser Land.

Jahrzehntelang haben wir diese Stereotype genährt.

Ausnahmslos alle Regierungen nutzten den Fußball als Herrschaftsinstrument. Der von Getúlio Vargas begründete Estado Novo (1930 bis 1945) propagierte über den Sport und in streng zensierten Zeitungen und Zeitschriften seine kryptofaschistischen Ideale, insbesondere anlässlich der Teilnahme Brasiliens an den Weltmeisterschaften von 1934 und 1938. In diesem Geist offizieller Propaganda bewarb sich Brasilien 1946 als Austragungsort der WM 1950 – der ersten nach der weltweiten Verwüstung durch den Zweiten Weltkrieg – und erhielt den Zuschlag. Aus diesem Anlass errichteten wir das für lange Zeit größte Stadion der Welt, das Maracanã in Rio de Janeiro.

1958 wurden wir Weltmeister, 1962 gleich noch einmal, unter dem „Bossa-Nova-Präsidenten“ Juscelino Kubitschek und in einer Zeit des hoffnungsvollen Übergangs von einer durch Monokulturen geprägten Agrargesellschaft zu einer urbanen Gesellschaft, die sich auf der Basis der Automobilindustrie entwickelte. So wie damals die Voraussetzungen geschaffen wurden für die dynamische und diversifizierte Wirtschaftsnation von heute, begann sich in dieser Zeit auch jene soziale Kluft zu vertiefen, die ebenso charakteristisch für uns ist.

Das Versprechen auf Arbeit in den großen Städten führte zur Entvölkerung des Landes, wo heute nur noch 20 Prozent der Bevölkerung leben. Ihm folgten aber weder entsprechende Löhne noch angemessene Arbeitsbedingungen, Wohnungen, Nahverkehr, Bildungseinrichtungen oder Gesundheitsversorgung. Mithilfe der Verschuldung im Ausland, einer Zeitbombe, die erst in den achtziger Jahren explodieren sollte, täuschten die Militärs der Bevölkerung ihr „Wirtschaftswunder“ vor.

Der dritte Titelgewinn bei der WM 1970 war Wasser auf die Mühlen der Diktatoren: Fußball als Ablenkung, während der Staatsapparat all jene verfolgte, einsperrte, folterte oder tötete, die es wagten, dem autoritären Furor zu widersprechen. In der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts hatten wir die mit 21 Jahren die längste aller Diktaturen Lateinamerikas.

Der vierte Weltmeistertitel für Brasilien (1994) fiel zusammen mit der Wahl von Fernando Henrique Cardoso zum Präsidenten, eine Wahl, die in gewisser Weise das moderne Brasilien begründete, mit wirtschaftlicher und politischer Stabilität nach einer Phase der Hyperinflation und einer institutionellen Krise, die schließlich im Impeachment gegen Fernando Collor de Mello kulminierte. Den fünften Titel gewann die brasilianische Nationalmannschaft 2002, unmittelbar vor der Regierungszeit Luiz Inácio Lula da Silvas, in der durch Sozialleistungen 36 Millionen Menschen aus bitterer Armut geholt wurden.

Die Frage, die sich nun alle kopfschüttelnd stellen: Warum sieht man uns, das „Land in Fußballschuhen“, auf die Straße gehen, unzufrieden und wütend – gerade jetzt, wo wir Austragungsort des wichtigsten Ereignisses des Weltfußballs sind? Ich versuche, einige der möglichen Antworten zu skizzieren, die letztendlich alle auf einen Punkt zulaufen.

Obwohl erst seit 29 Jahren, leben wir doch in der längsten ununterbrochenen demokratischen Phase unserer Geschichte. Nach der Unabhängigkeit war Brasilien Amerikas einziges Kaiserreich (1822–89), Militärdiktatur (bis 1894), eine Republik der Oligarchen (bis 1930), zivile Diktatur (bis 1945) und von 1964 bis 1985 erneut Militärdiktatur. Lediglich zwischen 1945 und 1964 hatten wir einen kleinen demokratischen „Ausrutscher“. Heute lebt in Brasilien zum ersten Mal eine Generation von Staatsbürgern, die in politischer Freiheit geboren wurde und aufwuchs. Das sind die Jugendlichen, die an der Spitze der Demonstrationen stehen.

Daneben gibt es sehr viele Menschen, die enttäuscht sind von der Unfähigkeit der demokratischen Regierungen, sowohl der PSDB von Fernando Henrique Cardoso als auch der PT von Lula da Silva, notwendige strukturelle Veränderungen herbeizuführen. Bildungs- und Gesundheitssystem gehören weiterhin zu den schlechtesten der Welt; Korruption korrodiert alle Ebenen der Exekutive, Legislative und Judikative; es gibt Landkonflikte und ein Defizit an Wohnraum; die öffentliche Sicherheit verfällt auf gefährliche Weise. Es wurde keinerlei Anstrengung unternommen, die Einkommen besser zu verteilen – der kosmetische Transfer von Einkommen mithilfe von Zuschüssen zum Lebensunterhalt wird möglicherweise nur zu einer neuen Form der Abhängigkeit jener Bevölkerungsteile führen, die unterhalb des Existenzminimums leben.

Abschließend noch eine ganz einfache Erklärung: Symbolisch befand sich der Fußball bisher auf Augenhöhe der armen Brasilianer. Durch die Spieler – in der Regel Schwarze oder Mischlinge – fühlten sie sich im Stadion vertreten. Es gab eine fast unmittelbare Identifikation mit der Anstrengung derer, die ebenfalls aus der Peripherie stammten, bedürftig und gedemütigt. Inzwischen stehen immer mehr Spieler mit ihren Millionengehältern für eine Welt, in der Luxus und zur Schau gestellter Reichtum dominieren, den wir bewundern oder sogar anstreben, zu dem wir aber keinerlei Bezug haben. Das Endspiel Brasilien gegen Spanien beim Confederations Cup 2013 im Maracanã zeigte das deutlich. Die Eintrittspreise waren für die große Mehrheit der Bevölkerung schlicht unerschwinglich – die Tribünen waren von der reichen, weißen Bevölkerungsschicht besetzt.

So ist gut möglich, dass Fußballfans aus dem Ausland während der WM zwei unterschiedliche Schauspiele erleben werden: Fußball in den Stadien, Proteste empörter Brasilianer draußen, auf der Straße, begleitet von Übergriffen der Polizei. Ein riskanter und keinesfalls wünschenswerter Kontrast.

■ Übersetzung aus dem Portugiesischen: Michael Kegler