Hier sind wir im Paradies

PROVINZ Wald, Maifest, Hahnenschrei. Dörfer wie Tringenstein im Hessischen Bergland sind die Sehnsuchtsorte der Städter. Weil das Leben dort überschaubar scheint – wie in einem Bühnenstück, in dem jeder seine Rolle kennt. Ein reales Drama

Jahre alt sind die ersten Siedlungen der Steinzeit, die sich als Dörfer bezeichnen ließen

Quelle: Gerhard Henkel: „Das Dorf –

Landleben in Deutschland“

Jahre alt ist das Dorf hierzulande als politische Gemeinschaft. So lange gibt es zum Beispiel Bürgermeister

Quelle: Clemens Zimmermann, Historiker

Milliarden Menschen leben weltweit auf dem Land. In Deutschland sind es etwa 20,8 Millionen

Quelle: BpB, Weltbank, BMZ

Dörfer gibt es in Deutschland. 2064 Gemeinden hatten Ende 2012 das Stadtrecht

Quelle: „Das Dorf“, Statist. Bundesamt

Einwohner hat die kleinste Gemeinde Deutschlands. Das Dorf heißt Gröde und liegt in Nordfriesland

Quelle: Statistikamt Nord

Prozent beträgt der Rückgang der Landbevölkerung im Osten zwischen 2006 und 2011. Im Westen sind es 1,3 Prozent

Quelle: Berlin Institut für Bevölkerung und Entwicklung

AUS TRINGENSTEIN STEFFI UNSLEBER
(TEXT) UND BERND HARTUNG (FOTOS)

Prolog: Das Dorf ist die Fremde. Vor zweihundert Jahren lebten drei Viertel der Deutschen auf dem Land. Das Dorf war die Regel, die Stadt die Ausnahme. Heute ist das Verhältnis umgekehrt: Drei Viertel leben in der Stadt. Dort entsteht Geschichte. Zeitgeist. Städter diskutieren mit Städtern über Städter. Sie wissen wenig vom Dorf. Es kann exotischer sein, in ein Dorf zu fahren als in ein unbekanntes Land.

Das Dorf verwahrlost. Eisdielen, Geschäfte und Postämter schließen. Wasserleitungen, Telefonanschlüsse und Busverbindungen werden teurer, kleine Gemeinden unattraktiver. Immer weniger Menschen werden sich für ein Leben dort entscheiden. Zurück bleiben Wüstungen.

Das Dorf verschwindet. Deutschland wird bis zum Jahr 2030 vier Millionen Einwohner verlieren, schätzt das Berlin-Institut für Bevölkerung und Entwicklung – und zwar vorwiegend auf dem Land.

Das Dorf an sich gibt es nicht. Es gibt Straßendörfer, Bergdörfer, Dörfer, die eigentlich Vorstädte sind. Um das Dorf zu untersuchen, müsste man es erfinden.

Um das Dorf neu zu erfinden, muss man es untersuchen.

Wer auf den Karten von Deutschland nach einem durchschnittlichen Dorf Ausschau hält, einem Dorf abseits der dicht besiedelten Räume um die Metropolen und aller großen Straßen, einem möglichst unscheinbaren Dorf ohne besondere Eigenschaften – der landet in Tringenstein.

Wald. Schafe. Auf dem Gipfel eine Burg. Häuser, die einander so ähnlich sind, dass sie sich zu einem Muster verdichten: graues Dach, weiße Wand, grüner Rasen.

600 Einwohner, eine Wirtschaft, der Bus kommt achtmal am Tag.

Wie ist das Leben dort?

1. Szene

Fünf Häuser, die Wände weiß. Also grau. An zweien hängen Schilder: „Zu verkaufen“. Eine Bushaltestelle. Eine Kneipe, die Rollläden sind unten. Daneben ein Fachwerkhaus, das Heimatmuseum.

Personen:

Die alte Frau (putzt im Nachbardorf, sieht vor allem sich selbst)

Der alte Mann (Rentner, observiert die anderen)

Die alte Frau (läuft über die Straße): Ich bin den ganzen Tag alleine, immer alleine. Hier ist ja nichts los. Aber wo soll ich sonst hin? Alle, die ich kenne, sind hier. Meine zwei Jungs haben nie geheiratet. Das sind so richtige Bauern. Die will doch keiner. Ich laufe durchs Dorf, weil man ja sonst nichts sieht. Und jetzt muss ich zur Oma, waschen und Haushalt, das nervt mich schon.

Der alte Mann (steht vor einem Haus, raucht): Ich kümmere mich mit den Weibern um den Dorfplatz. Ich stutze die Hecken und richte den Osterbrunnen. Ich hab ja Zeit. Die jungen Leute haben keine Zeit und keine Lust. Wenn wir Alten nichts mehr machen, zerfällt das Dorf. Lauter fremde Leute sind zugezogen. Da drüben, die Häuser. Verkauft. Verkauft. Verkauft. Alles fremde Leute!

Der Mann rollt das r wie ein Amerikaner. Hessischer Dialekt. Er läuft zum Brunnen, geht auf dem Dorfplatz auf und ab. Er starrt auf ein Haus. Auf dem Hof ist ein Holzhaufen mit einer Plane abgedeckt, daneben steht ein Auto ohne Kennzeichen.

Der alte Mann: Leute, die hierherziehen, machen eine Schweinerei. Das sieht man sonst nicht. Da wohnt ein Mann alleine drinnen. Zur Miete. Und nachts schreit er. Wie ein Ochse.

Der Chor der Dorfexperten tritt auf.

Dorfexperte 1: Das Dorf ist nicht nur eine Kulisse, sondern auch eine soziale Versuchsanordnung. Ein Vergrößerungsglas der zu ergründenden menschlichen Natur.

Dorfexperte 2: Und der Gang über die Dorfstraße ist ihre Inszenierung.

Chor ab.

2. Szene

Ein Wohnzimmer. Sessel und Sofa. Ein Ofen mit Ofenrohr, daneben ein leerer Streusalzeimer. Zwei Katzen, eine Ratte, ein Meerschweinchen, ein Terrarium mit Echsen. Buddha, in Neonfarben an die Wand gemalt. Davor steht ein selbst gebautes Xylofon.

Personen:

Der Freak (lange weiße Haare, langer weißer Bart. Zieht alle paar Jahre in ein anderes Dorf. Immer neben die Kirche)

Der Freak: In der Stadt vereinsamen die Leute, aber auf dem Dorf noch viel mehr. Ich bin hier geboren, drei Berge weiter, in eine der ältesten Familien hier. Ich spreche die Ursprache. Ich kann meine Vorfahren auf tausend Jahre zurückverfolgen.

Pause.

Der Freak: Bei mir kommen öfter die Bullen. Als die Leute erfahren haben, wer hier eingezogen ist, kamen acht Anzeigen. Viermal war die Polizei da. Bimbimbimbimbim. Das ist das Dorfleben.

Pause.

Der Freak: Der alte Mann da drüben hat alles im Auge. Bewacht das Dorf wie ein Hund. Er macht auch den Hitlergruß. Aber trotzdem. Wir hatten uns fast angefreundet, dann kam der Türke. Und der Alte hat nicht mehr mit mir geredet, sondern sich dem Türken zugewandt, dem Scheißtürken. Und jetzt grenzen sie mich beide aus.

Er wird lauter.

Der Freak: Der Alte trifft sich immer mit seinen CDU-Freunden vor meinem Hof. Die wollen mich hier rausmobben. Über Stalking wollen sie mich rausmobben. Er sagt, das ist kein Stalking, das ist Tradition. Warum die Menschen hier so sind? Die Frau hat innen das Sagen, der Mann außen. Und außen gibt es nicht so viel, nur den Hof und ein paar Büsche.

Er lacht. Dann fängt er an, sich mit seiner Drehmaschine eine Zigarette zu basteln.

Der Freak: Irgendwann hab ich zum Alten „Krotzerop“ gesagt, das heißt „Kopf ab“. Der ist ausgerastet, ist mit seinem Sohn gekommen und wollte mich verprügeln.

Er wird lauter.

Der Freak: Der hat gesagt, man sollte mir einen Betonblock an den Fuß binden und mich versenken. Dann hab ich die Polizei gerufen.

Er greift hinter seinen Kopf. Dort hängen drei Messer.

Der Freak: Siehst du das Messer? Das ist ein Signalmesser. Wenn mich hier jemand ärgert, dann zieh ich es und ramme es hier in den Tisch! Wenn die mich aus der Wohnung werfen, dann geh ich in die Wälder und erklär dem Dorf den Krieg!

3. Szene

Der Dorfplatz. Grauer Himmel, leichter Regen. Eine Frau verkauft aus dem Kofferraum ihres weißen Kombis Nudeln und Eier.

Personen: Der alte Mann

Der alte Mann (steht vor seinem Haus, raucht): Als ich jung war, lag hier Schnee bis unter die Baumkronen. Wir haben vier, fünf Schlitten aneinandergebunden, Männlein, Weiblein, und dann ging’s ab. Die Hauptstraße runter. Und wenn es dunkel war, ist einer vorausgefahren mit der Taschenlampe.

Pause.

Der alte Mann: Der Typ da drüben, der Verrückte, das ist ein ganz gefährlicher Bursche. Warum? Die Tochter von dem hat sich vor 25 Jahren auf einem Acker mit Benzin übergossen und angezündet. Die war 14, 15 Jahre alt, noch in der Schule. Der hat ein Malheur vom Hasch. Ein ganz übler Bursche. Warum? Weiß ich auch nicht, musst du ihn fragen.

Der Chor der Dorfexperten tritt auf.

Dorfexperte 1: Stadt ist Gesellschaft, Dorf ist Gemeinschaft.

Dorfexperte 2: Die engen Grenzen des Dorfes machen es zu einem Ort der Entartung, der Ausschließung des Fremden und der Zerstörung von Lebenssinn.

Chor ab.

3. Szene

Feuerwehrhaus. Biertische, Bierbänke. In der Mitte eine Bar. Im Hintergrund läuft „Mambo Number Five“.

Personen:

Der Politiker (SPD, jung, übergewichtig)

Die Hausfrau (blauer Glitzerschal, kurze blonde Haare)

Der Narr (drahtig, frisch geschieden, flirtig)

Die Dorfschönheit (lange blonde Locken, schweigsam)

Die fünf Trinker

Der Politiker: Am besten ist das Hinweisschild für das Dorffest. So hat die CDU auch etwas beigetragen. Hahaha.

Er deutet auf ein CDU-Wahlplakat. Dessen Rückseite wurde zum Wegweiser für das Fest umfunktioniert.

Der Narr (flüstert): Sein Problem ist, dass er keine abbekommt.

Der junge Politiker verteilt Apfelwein mit Cola. Die fünf Trinker stoßen an.

Die Hausfrau: Hier hilft jeder jedem. Weil man aufeinander angewiesen ist. Ich komme aus Berlin. Ich habe meinen Mann kennengelernt, als ich für drei Wochen im Ferienlager war. Ein Jahr bin ich auf Probe gekommen. Ich wollte wissen, wie mich die Dorfleute annehmen. Ich kam in Minirock und Leggins, ich bin halt ein bisschen verrückt. Am Anfang war es ein Kampf. Die Leute haben gesagt: Wie sieht denn die aus? Es hat sieben Jahre gedauert, aber dann hatten sie mich akzeptiert. Jetzt bin ich schon dreißig Jahre hier.

Der Politiker: Und wie man sieht, ist die Ehe total gefloppt.

Die Hausfrau kreischt, schlägt ihm auf den Rücken.

Der Politiker: Ohne hochnäsig erscheinen zu wollen: Wer will schon in Berlin leben? In einem Wohnblock, in dem mehr Leute wohnen als in unserer ganzen Gemeinde?

Die Dorfschönheit läuft vorbei. Sie trägt einen kurzen Rock mit Leggins. Alle Männer schauen ihr nach.

Die Hausfrau: Hier achten die Leute aufeinander. Ich trage morgens die Zeitungen aus. Und ich sehe: Aha, bei der alten Frau ist Licht an. Und ich schaue ein paar Minuten später, ob das Licht wieder aus ist. Einmal, beim Erwin war es so: Da war es halb acht und das Rollo noch unten. Da sind wir zu ihm rein, und er hatte einen Schlaganfall. In der Stadt liegt einer da monatelang.

Ein Glas fällt von der Bierbank. Ein Trinker bückt sich, wischt die Lache vom Boden, tupft dann mit dem Tuch den Hosenstall eines anderen Trinkers ab.

Die Hausfrau: Der Zusammenhalt ist toll. Egal was du für eine Rasse bist. Du wirst natürlich erst mal beschnuppert. Aber dann gehörst du trotzdem dazu.

Der Narr (flüstert): Die und ihr Mann, das sind ganz liebe Leute. Nur leider unterbelichtet.

Der Politiker: Außenseiter gibt es hier nicht. Vielleicht ein paar, die es finanziell nicht so dicke haben. Aber man lässt es die Leute nicht spüren. So eine Ablehnung wie in der Stadt gibt es nicht.

Trinker 1: Der Freak ist ein spezieller Fall.

Trinker 2: Ein rotes Tuch.

Trinker 3: Über den wird nicht geredet.

Sie stoßen an.

Der Narr (flüstert): Es gibt hier eben viele Assis.

Der Chor der Dorfexperten tritt auf.

Dorfexperte 1: Geselligkeit und Nothilfe sind Leistungen, die vom Dorf erwartet und manchmal auch erfahren werden.

Dorfexperte 2: Enge, Gruppendruck und Zurückgebliebenheit aber auch.

Chor ab.

5. Szene

Im Ziegenstall des Freaks. Er wirft mit einer Mistgabel dreckiges Stroh aus dem Gehege. Die zwei Ziegen sind braun gescheckt und außergewöhnlich groß.

Der Freak: Ich habe sie, seit sie ganz klein sind. Die Mutter ist mir gestorben. Sie hat eine Kolik bekommen. Ich hab mich da noch nicht so ausgekannt mit Ziegen.

Pause.

Der Freak: Meine Mutter hat gesagt: Beim ersten Kind hat sie nichts falsch gemacht, erst beim zweiten.

Pause.

Der Freak: Ich bin das zweite.

Der Freak: Vor Kurzem war wieder die Polizei da, weil ich gesagt hab: Am liebsten würde ich den Türken abknallen. Oder so ähnlich. Irgendwas ganz Hartes. Dann kamen vier Bullen, und die wollten schon die Wohnung stürmen, aber eine Bullenfrau hat die Männer weggeschickt und deeskaliert. Wir haben uns dann gut verstanden.

Er lacht.

Der Freak: Weißt du, der Türke ist Makler. Der hat das Haus gekauft, und wenn er drei Jahre hier wohnt, zahlt er beim Verkauf weniger Steuern. Eigentlich wohnt er woanders. Aber wenn er da ist, versucht er immer, mich zu provozieren. Die Kinder haben „Fick dich, Ziegenbart“ auf meine Einfahrt geschrieben. Und er parkt immer seinen Bus vor meiner Einfahrt. Ich hab ihn schon oft angezeigt, aber es bringt nichts.

Der Freak verlässt den Ziegenstall, setzt sich in seinem Wohnzimmer auf einen Sessel. Er greift nach einem Stapel bedruckter Blätter.

Der Freak: An die Staatsanwaltschaft, Konrad-Adenauer-Straße 20, 60313 Frankfurt am Main. Anzeige aus allen rechtlichen Gründen. Der Hof des Herrn Y. ist eine Dauermüllkippe. Mülltrennung findet nicht statt. Eine ganze Toilette wird zum Beispiel über eine schwarze Tonne entsorgt. Als Hofbeleuchtung dient ein Flutlicht mit Bewegungsmelder, der in Richtung meines Hauses strahlt. Aufgrund der vielen Katzen geht er ständig an. Außerdem heizt er über den Winter fast ausschließlich mit Kohlebriketts. Meine Fenster können dann aufgrund von Gestank nur selten gekippt werden …

Der Freak öffnet eine kleine Plastiktüte, holt Haschisch heraus, bröselt es in eine Messingschale.

Der Freak: Ich habe als Kind oft im Wald übernachtet und oben auf den Felsen geschlafen. Das waren für mich einfach Steine. Aber irgendwann habe ich begriffen: Das sind keine Steine. Das sind Gräber.

Er greift nach einem Einmachglas, in dem ein Rohr steckt. Er füllt die selbst gebaute Pfeife, zündet sie an und nimmt einen tiefen Zug.

Der Freak: Ich erforsche hier in Tringenstein ein Gebiet, das sich Dornhecke nennt. Wir leben eigentlich auf einem Steinzeitfriedhof, aber wenn ich das den Dorfbewohnern sage, halten sie mich für komplett bekloppt.

Er dreht die Musik auf. Sehr laut. Ein Xylofon, eine Panflöte, verzerrte Stimmen. Elektronische Beats. Der Bass dröhnt durch den Raum. Der Freak ist jetzt kaum noch zu verstehen.

Der Freak (schreit): Deshalb bin ich noch hier. Ich will mit der Welt und der Natur in Einklang leben – und das kann ich nur auf dem Dorf. Aber auch wenn sie mir Strom und Wasser abstellen – ich kann so leben wie vor hundert Jahren. Alles ist vorbereitet. Meine Ziege muss nur angezapft werden. Ich bin eine Zelle, die von sich aus überlebensfähig ist.

Er setzt sich auf einen Hocker vor sein Xylofon, streicht mit den pelzigen Schlägeln über die Stäbe. Trommelt, schlägt zu, im Takt der Musik.

Der Freak: Wenn man mit dem Dorf nicht im Clinch ist, bringt das auch nichts.

Er schlägt immer schneller. Immer härter.

Der Freak: Man ist dann nämlich auch alleine.

6. Szene

Der nächste Tag. Ein Garten im Neubaugebiet von Tringenstein: Holzhaus, Rasen, Grill.

Personen:

Der Dorfpolizist (gezwirbelter Schnurrbart, freundliches Lächeln, misstrauischer Blick)

Der brave Kerl (Sohn des Polizisten, dunkle Haare, muskulös)

Das brave Mädchen (die Freundin des braven Kerls, blond, zierlich)

Der wilde Kerl (trägt Hut, spielt in der Band Schuldig)

Das wilde Mädchen (lange dunkle Haare, dunkel geschminkte Augen)

Die Dorfschönheit

Der Dorfpolizist und die anderen stehen im Kreis um den Grill. Der brave Kerl wendet Steaks.

Der Dorfpolizist: Ich wollte nach Feierabend Ruhe haben. Deshalb bin ich in den Ort gezogen, in dem ich die wenigsten Einsätze habe. Heute erst saß ich zweieinhalb Stunden auf dem Hochsitz. Zur Entspannung.

Dorfpolizist ab. Die anderen setzen sich um einen Tisch. Der brave Kerl serviert die Steaks sich selbst und dem braven Mädchen. Das Radio läuft.

Der brave Kerl: Fernweh habe ich nicht. Nur manchmal sehne ich mich zurück nach Tirol. Da waren wir oft als Kinder.

Das brave Mädchen: Einmal haben wir was Verrücktes gemacht. Wir haben mit dem Finger auf die Landkarte getippt: Feucht bei Nürnberg. Also sind wir da hingefahren. Und dann weiter nach München. Das erste Mal alleine in einer großen Stadt. Wir haben uns verlaufen, sind stundenlang durch die Stadt geirrt, bis wir unser Hotel gefunden hatten. Wir hatten kaum geschlafen, und ich war das erste Mal betrunken. Auf der Rückfahrt habe ich ins Auto gekotzt. Wir waren nicht mal 24 Stunden dort.

Der brave Kerl: Wir wollten das eigentlich öfter machen. Man nimmt sich so was immer vor, macht es aber nicht – so ist das eben. Meistens sind wir hier auf dem Dorf.

Das wilde Mädchen: Ich will hier weg.

Gelächter.

Der brave Kerl: Ich nicht. Meine Eltern haben jetzt das Haus gekauft. Schöne Randlage. Natur. Und so langweilig ist es hier ja auch nicht, es gibt ja die Bauerndisco.

Das brave Mädchen: Ich kann mir echt nicht vorstellen, in der Stadt zu leben. Mein Heimatdorf hat so 1.500 Einwohner, das ist mir fast zu groß. Lieber was Kleines, wie hier Tringenstein. Das ist schön abgelegen. Ruhig.

Der brave Kerl steht auf, holt eine Flasche Berentzen Waldfrucht und Gläser. Mit Kronkorken muss man in eines der Gläser in der Mitte treffen. Trifft man, muss der trinken, der links von dem sitzt, der getroffen hat. Sie spielen. Das brave Mädchen trifft. Die Dorfschönheit muss trinken.

Der wilde Kerl: Geil.

Die Dorfschönheit: Pfff.

Sie trinkt.

Die Dorfschönheit: Prrr.

Das wilde Mädchen: Ich will in die Stadt. Oder nach Japan.

Der brave Kerl: Was willst du denn später mal machen?

Das wilde Mädchen: Ich will Chemielaborantin werden. Oder Kinderpsychologin. Ich hasse Kinder, außer die, die psychisch eine Macke haben. Kennt ihr das Kind, das immer knurrt?

Das brave Mädchen: Nee.

Das wilde Mädchen: Das wohnt in so einer Sozialwohnung, wo die Leute immer für ein halbes Jahr sind und dann wieder verschwinden. Das wird immer gehänselt in der Schule. Ich hab es angesprochen, es hat erst geknurrt, war dann aber normal. In der Schule spricht es aber nie.

Der wilde Kerl: Ich kannte mal einen, der mit 17 noch in der achten Klasse war.

Der brave Kerl: Was?

Der wilde Kerl: Das war ein Türke, wenn dir das weiterhilft.

Das wilde Mädchen: Bei uns im Nachbardorf gibt es auch so ein Asylbewerberheim im alten Froschmuseum. Das ist so scheiße. Die Leute klauen die Beleuchtung. Sogar der Busfahrer lässt sie stehen und fährt einfach vorbei. Meine kleine Schwester hat Angst vor denen.

Sie spielen weiter. Die Dorfschönheit muss wieder trinken. Der wilde Kerl starrt auf das letzte Steak.

Der brave Kerl: Willst du es?

Der wilde Kerl: Ja!

Greift zu. Kaut.

Der wilde Kerl: Ich hatte einmal nach dem Kiffen so starken Hunger, dass ich Blätter gegessen habe. Vom Baum. Aber es kam mir vor, als würde ich durch ein Land aus Schokolade gehen. Wie in Charlies Schokoladenfabrik.

Aus dem Radio dudelt Helene Fischer: Atemlos.

Der brave Kerl: Yeah! Stimmung!

Der wilde Kerl: Warte, ich zeig dir unser neues Lied. Es heißt: Fang an zu träumen!

Er holt sein Smartphone heraus. Scheppernd hört man zu der Melodie von „Atemlos“ ein dumpfes Klopfen, dann eine melancholische E-Gitarre. Eine dunkle männliche Stimme singt:

Oohoho. Oohohooooo.

Stell dir vor, es wäre ein Märchen

voller Erinnerung von schönen Bildern.

Stell dir vor, wir sind im Paradies,

wo die Freiheit uns herzlich begrüßt.

Fang an zu träumen,

der Weg ist nicht weit.

Fang an zu träumen,

jetzt ist die Zeit.

Fang an zu träumen,

der Weg ist nicht weit.

Fang an zu fliegen,

jetzt ist die Zeit.

Ooohohoho.

Steffi Unsleber, 26, arbeitet als Redakteurin der sonntaz und ist in einem Dorf in Unterfranken aufgewachsen. Sie hat eine Woche in Tringenstein gelebt

Bernd Hartung, 47, freier Fotograf, ist in einem Dorf in Oberfranken aufgewachsen

Die Dorfexperten sind Wissenschaftler, die über das Leben auf dem Land forschen. Aus Gesprächen mit ihnen und ihren Essays wird hier gekürzt zitiert. Mit Auszügen aus: Detlef Baum: „Dorf und Stadt als idealtypische Konturen und Lebensräume in Ost und West“; Werner Nell und Marc Weiland: „Imaginationsraum Dorf“; Ernst Langthaler und Reinhard Sieder: „Die Dorfgrenzen sind nicht die Grenzen des Dorfes“ und Heinrich Becker: „Ländliche Lebensverhältnisse im Wandel 1952, 1972, 1993/94 und 2012“