Der Fortschritt der Menschheit liegt im Alter

■ ist Philosoph und stellvertretender Direktor des Instituts für Ethik und Geschichte der Medizin an der Universität Tübingen. Sein Forschungsschwerpunkt ist Ethik und Altern. Ehnis Buch „Ethik der Biogerontologie“ ist 2014 bei Springer Fachmedien in Wiesbaden erschienen.

VON HANS-JÖRG EHNI

Wir können Alterungsprozesse bereits bei Tieren verändern – und vielleicht bald auch beim Menschen. Das ist eine Entwicklung, die nicht nur dem Einzelnen, sondern am Ende auch der Gesellschaft einen großen Dienst erweisen könnte.

Biologische Alternsforscher verlangsamen das Altern bereits bei Labororganismen. Sie können die Lebensspanne von Hefen und Fadenwürmern bis um das Zehnfache verlängern, diejenige von Fruchtfliegen und Mäusen immerhin verdoppeln.

Dafür liegt ein vielfältiges Repertoire an Methoden vor: unter anderem die sogenannte Kalorienrestriktion. Dabei erhält ein Labortier nur ungefähr 70 Prozent der Kalorienmenge, die es bei freier Nahrungsaufnahme zu sich nehmen würde. Diese und andere Methoden sind nach Ansicht der einschlägigen Experten auf den Menschen übertragbar, denn die Mechanismen des körperlichen Alterns sind speziesübergreifend. Erforscht ist das am Menschen zwar noch nicht – diesem Schritt stehen Forscher jedoch kurz bevor.

Diese Aussicht beflügelt die Fantasie von Transhumanisten, die die menschliche Natur überwinden wollen und von einem alterslosen Utopia träumen. Gleichzeitig erwachen die Bedenken bei Moralisten, die im radikal verlängerten Leben einen frivolen Wunsch sehen. Aber sowohl die Hoffnung als auch die Empörung eilt den realistischen Aussichten weit voraus. Es gibt aus der Sicht der biologischen Alternswissenschaft im Moment keine wirksame und sichere Anti-Aging-Medizin. Und auch die Methoden, die gerade im Labor getestet werden, könnten zwar wirksam sein – doch auch sie werden keine ewige Jugend bringen: Prominente Biogerontologen sagen gerade einmal eine Lebensverlängerung von sieben Jahren bei verbesserter Gesundheit voraus, die innerhalb der nächsten Jahrzehnte durch verlangsamtes Altern erzielt werden könnte.

Kritikern geht selbst das zu weit. Bereits der Ansatz sei verkehrt, körperliches Altern bekämpfen zu wollen. Denn das sei weder für die Gesellschaft noch für den Einzelnen gut. Gehöre doch das Altern zum Leben und seinem natürlichen Lauf. Nicht ein längeres Leben solle man anstreben, sondern ein erfülltes, mit einem gesunden, natürlichen Alter.

Wünsche, die darüber hinausgehen, könnten nur von einer Konsumkultur hervorgebracht werden, die von allem immer noch mehr wolle und die von Jugendlichkeit geradezu besessen sei. Aus gesellschaftlicher Sicht führe das Projekt des verlangsamten Alterns zu einem weiteren Zuwachs der Betagten und damit zur endgültigen Überalterung. Kreativität und Produktivität der Gesellschaft gingen zurück. Es drohe der Stillstand in der Gerontokratie.

In diesen und ähnlichen Ansichten sind zahlreiche Irrtümer versammelt, die teils ein zu optimistisches und teils ein zu pessimistisches Bild des Alters und des Alterns zeichnen.

Das Altern stellt vielschichtige kulturelle und biologische Phänomene dar. Die Biogerontologie definiert Alterungsprozesse dadurch, dass sich durch sie molekulare Schäden in der Zelle anhäufen. Gleichzeitig nehmen die Reparaturmechanismen ab, durch die sie behoben werden könnten. Außer bei uns Menschen kommt bei Lebewesen eine Lebensphase des Alters als Resultat solcher Prozesse so gut wie nicht vor. Die meisten Organismen fallen äußeren Todesursachen zum Opfer, bevor sich entsprechende Anzeichen bemerkbar machen. Körperliches Altern hat also weder für Individuen noch für Arten irgendeine biologische Funktion.

Wer das körperliche Altern verteidigen möchte, kann sich also nicht auf seine natürliche Funktion berufen. Ohnehin ist das natürliche Vorkommen von irgendetwas ein schlechtes Argument dafür, es zu akzeptieren.

Krebs und neurodegenerative Erkrankungen sind nicht weniger natürlich als biologisches Altern. Sie sind zudem auch eng mit Alterungsprozessen verbunden.

Gesundes Altern aus eigener Verantwortung ist ohnehin ein Mythos. Egal wie gesund man sich ernährt, wie viel Sport man treibt – am Ende werden immer zufällige molekulare Vorgänge, die sich unserem Einfluss noch entziehen, zu dieser oder jener degenerativen Erkrankung führen, zu Gebrechlichkeit, zu Altersschwäche und schließlich zum Tod. Selbstverständlich können altersassoziierte Erkrankungen durch einen entsprechenden Lebensstil hinausgezögert werden, aber vermieden werden können sie nicht.

Das Unvermeidliche hinzunehmen war seit jeher ein philosophischer Ratschlag der Klugheit. Dazu gehört aber nicht, es für alle Zeiten als unvermeidlich zu erklären. Wer argumentiert, körperliches Altern in seiner jetzigen Form sei zu akzeptieren, behauptet implizit, man solle Krankheiten ab einem bestimmten Alter nicht mehr behandeln. Diejenigen, die diese Position vertreten, wenden sich gleichzeitig häufig vehement gegen ein selbstbestimmtes Lebensende. Wenn aber das Leben zu Recht als hohes Gut eingestuft wird, warum dann nicht seine gesunde Spanne verlängern?

Bisher ist es nicht absehbar, dass das menschliche Potenzial in der aktuellen durchschnittlichen Lebenszeit erschöpft ist. Selbst wenn die Kreativität etwas abnehmen sollte, muss das nicht auch für die Lebensfreude gelten.

Schopenhauer war der Ansicht, dass der schnelle Wechsel der Generationen und der Umstand, dass jede wieder von vorne beginnen muss, das größte Hindernis zu einem wahren Fortschritt der Menschheit darstellen.

Die Lebensphase Alter ist eine kulturelle Errungenschaft. Ihre Schattenseiten können durch die biologische Altersforschung in näherer Zukunft möglicherweise verbessert werden. Dieses Ziel zu erreichen und dafür zu sorgen, dass möglichst viele Menschen davon profitieren, verdient breite Unterstützung.