Justiz lässt Sicherheitsverwahrte sitzen

SICHERUNGSVERWAHRUNG Rund 70 vermeintlich gefährliche Schwerverbrecher müssten entlassen werden. Doch selbst das Verfassungsgericht mauert

FREIBURG taz | Die deutsche Justiz mauert und trickst, um die Entlassung von rund 70 Straftätern aus der Sicherungsverwahrung zu verhindern. Sie unterläuft damit ein umstrittenes Urteil des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR). Selbst das Bundesverfassungsgericht weigerte sich jetzt, die sofortige Freilassung eines Betroffenen anzuordnen.

Bei den rund 70 Männern wurde bereits vor 1998 Sicherungsverwahrung angeordnet; das heißt: sie müssen nach der Verbüßung ihrer Strafe so lange in Haft bleiben, bis sie nicht mehr als gefährlich gelten. Vor 1998 war die Sicherungsverwahrung auf zehn Jahre befristet. Dann wurde die Befristung vom Bundestag aufgehoben, auch für bereits einsitzende Täter.

Auf Klage des in Hessen einsitzenden Gewaltverbrechers Reinhard M. entschied der EGMR jedoch, dass die Entfristung nicht auf Altfälle hätte angewandt werden dürfen. Die Sicherungsverwahrung sei nämlich eine Strafe, keine Prävention. Deshalb gelte das Rückwirkungsverbot für Strafgesetze. Seit dem 10. Mai ist die Straßburger Entscheidung rechtskräftig.

M. stellte daraufhin einen Antrag auf sofortige Entlas- sung, dem das Landgericht Marburg am Dienstag stattgab. Dennoch wurde M. noch nicht entlassen. Die Staatsanwaltschaft hat Einspruch eingelegt – offensichtlich nur, um Zeit zu schinden.

Für die rund 70 weiteren „Altfälle“ hat das Straßburger Urteil zwar keine direkt bindende Wirkung. Aber Deutschland ist verpflichtet, den Verstoß gegen die Europäische Menschenrechtskonvention auch in Parallelfällen zu beseitigen. Die Landesjustizminister weigern sich jedoch, die Betroffenen automatisch zu entlassen. Gestützt wird dies durch eine Entscheidung des Oberlandesgerichts Koblenz vom 17. Mai. Dort heißt es, vor einer Entlassung müsse erst die deutsche Gesetzeslage geändert werden. Justizministerin Sabine Leutheusser-Schnarrenberger (FDP) bereitet jedoch derzeit kein Entlassungsgesetz vor.

Auch das Bundesverfassungsgericht weigert sich. In einem Eilbeschluss wurde gestern der Antrag eines Mannes abgelehnt, der in Diez (Rheinland-Pfalz) in Sicherungsverwahrung sitzt. Trotz der eigentlich klaren Rechtslage will Karlsruhe nicht per Eilverfügung entscheiden. Der verurteilte Menschenhändler könne bis zu einer endgültigen Klärung warten. (Az.: 2 BvR 769/10)

CHRISTIAN RATH