Karlsruhe bläst die Attacke gegen Europa ab

JUSTIZ Die Verfassungsrichter wollen den EU-Gerichtshof nur in Extremfällen blockieren

FREIBURG taz | Das Bundesverfassungsgericht will den Europäischen Gerichtshof (EuGH) nicht an die kurze Leine nehmen. In einem Musterverfahren hat Karlsruhe jetzt erklärt, dass es vermeintliche Fehlurteile des EuGH nur in extremen Ausnahmefällen beanstanden will.

Konkret ging es um einen Fall beim Automobilzulieferer Honeywell. Dort waren ältere Arbeitnehmer aufgrund eines deutschen Gesetzes nur befristet eingestellt worden. Der EuGH hatte dieses Gesetz jedoch 2005 in einem anderen Fall („Mangold“) für EU-widrig erklärt. Es gebe einen EU-rechtlichen Grundsatz, wonach Altersdiskriminierung generell verboten sei.

Dieses Mangold-Urteil hatte unter EU-skeptischen Juristen große Empörung ausgelöst. Sie kritisierten, dass in der EU kein allgemeines Verbot der Altersdiskriminierung gelte. Der EuGH habe hier eindeutig seine Kompetenzen überschritten.

Auch mehrere Verfassungsrichter am zuständigen zweiten Senat in Karlsruhe gelten als EU-Skeptiker. Mit Spannung war deshalb erwartet worden, ob Karlsruhe den Honeywell-Fall nutzt, um einen Großkonflikt mit dem EuGH vom Zaun zu brechen. Europafreundliche Juristen warnten, dass die EU schlicht nicht funktionieren könne, wenn nationale Verfassungsgerichte bei jeder Meinungsverschiedenheit EuGH-Urteile für unanwendbar erklären.

Bereits im Urteil zum Lissabon-Vertrag 2009 deutete sich eine moderate Karlsruher Linie an. Man werde nur einschreiten, wenn der EuGH „ersichtlich“ jenseits seiner Kompetenzen („ultra vires“) urteile. Auch wurde versprochen, dass Karlsruhe seine Kontrollfunktion nur „europarechtsfreundlich“ anwenden wolle.

In der nun veröffentlichten Honeywell-Entscheidung ist das Verfassungsgericht noch zurückhaltender. Nur „offensichtlich kompetenzwidrige“ Urteile des EuGH sollen beanstandet werden. Außerdem müsse das Urteil zu einer „strukturell bedeutsamen Verschiebung im Kompetenzgefüge zwischen EU und Mitgliedsstaaten“ führen. Zudem will Karlsruhe, bevor es ein EuGH-Urteil für unanwendbar erklärt, dem Luxemburger Gericht Gelegenheit zur Stellungnahme geben. Das EuGH-Urteil zur Altersdiskriminierung habe die Kompetenzen der EU jedenfalls nicht ausgedehnt und müsse nicht blockiert werden.

Die Entscheidung im Verfassungsgericht fiel immerhin mit einer deutlichen Mehrheit der Richterstimmen (7:1). Einzige Ausnahme: der konservative Herbert Landau, der den Kollegen vorwarf, sie hätten den Konsens aus dem Lissabon-Urteil verlassen. CHRISTIAN RATH