Reform des Wahlgesetzes: Koalition ringt um Kompromiss

Obwohl eine Partei mehr Stimmen bekommt, kann sie Sitze im Parlament verlieren. Diesen absurden Effekt muss die Koalition im Wahlrecht ausräumen. Die Zeit drängt.

Wider dem Grundgesetz: das Wahlsystem in Deutschland. Bild: dpa

BERLIN taz | Bei der Bundestagswahl 2005 waren rund 20.000 Hamburger daran schuld, dass die SPD einen Sitz weniger im Parlament erringen konnte. Das Paradoxe daran: Die 20.000 Hamburger hatten ihr den Sitz gekostet, weil sie für die SPD gestimmt hatten.

Die Ursache ist ein Konstruktionsfehler des Bundeswahlgesetzes. Es kann dazu führen, dass Wähler mit ihrer Stimme der Partei schaden, die sie wählen. Diese Eigenheit, das sogenannte negative Stimmgewicht, ist nicht mit dem Grundgesetz vereinbar. Daher urteilte das Bundesverfassungsgericht 2008, das Wahlgesetz müsse reformiert und das negative Stimmgewicht beseitigt werden. Bis zum 30. Juni 2011 gaben die Richter dem Bundestag Zeit.

Anfang April wurde ein Vorschlag der Koalition zur Wahlreform öffentlich: Die Sitze im Bundestag sollten demnach zunächst je nach Wahlbeteiligung auf die Bundesländer verteilt werden und anschließend erst auf die Landeslisten der Parteien. Bisher werden zunächst die Sitze je nach Zweitstimmenanteil auf die Parteien verteilt und diese verteilen sie anschließend auf ihre Landeslisten, je nach Wähleranteil.

"Wir sind auf einem guten Weg", zitierte die dpa einen Sprecher der Unionsfraktion. Und kündigte eine Einigung für die vergangene Woche an. Bisher ist nichts passiert. "Im Moment gibt es fünf Modelle, die noch geprüft werden", sagte ein Sprecher der FDP-Fraktion jetzt der taz. Für welches Modell man sich letztendlich entscheide, sei nach wie vor Gegenstand der Debatte.

Klar ist: Der Vorschlag, den schwarz-gelbe Politiker Anfang April ausgeplaudert hatten, ist verfassungsrechtlich bedenklich. "Das negative Stimmgewicht würde durch den Vorschlag der Koalition nicht ausgeräumt", sagt der Wahlrechtsexperte Martin Fehndrich, der die Internetseite www.wahlrecht.de betreibt. "Es käme sogar noch ein neuer Effekt hinzu, der das Problem noch verschärfen würde."

Rechenbeispiel beweist altes Grundproblem

Fehndrich war einer der beiden Kläger, die 2008 das Urteil des Bundesverfassungsgerichtes herbeigeführt hatten. Als die Medien den Reformvorschlag der Koalition verbreiteten, belegte Fehndrich prompt mit einem Rechenbeispiel, dass das Grundproblem des negativen Stimmgewichts mit dem Vorschlag alles andere als behoben wäre: Ein Wähler könnte nun durch seine Stimmabgabe dafür sorgen, dass sein Bundesland einen weiteren Sitz im Parlament stellen dürfte. Dieser Sitz muss aber nicht an die favorisierte Partei des Wählers fallen.

Wäre das vorgeschlagene Wahlgesetz bei der letzten Bundestagswahl in Kraft gewesen, sagt Fehndrich, hätte etwa die Linkspartei einen zusätzlichen Sitz gewonnen, wenn sie in Niedersachsen 50.000 Stimmen weniger erhalten hätte. Konnte bisher nur dann ein negatives Stimmgewicht eintreten, wenn es in einem Bundesland zu Überhangmandaten kam, würde der neue Effekt auch ganz ohne Überhangmandate für Verzerrungen sorgen.

Der publik gewordene Vorschlag hat noch einen weiteren Haken. In die Berechnung der Wahlbeteiligung der Bundesländer würden sowohl ungültige Stimmen einfließen als auch Stimmen für Parteien, die an der nach wie vor geltenden Fünfprozenthürde scheitern würden.

Zu größeren Verzerrungen könnte dies führen, wenn eine Partei in einem Bundesland sehr gute Ergebnisse einfährt, aber in Gesamtdeutschland an der Fünfprozenthürde scheitert. Dann könnten die Sitze, die von den Wählern der Partei in das Bundesland geholt wurden, an den politischen Gegner fallen.

Kritik von der Opposition

Nach derzeitigen Umfrageergebnissen würde dieser Effekt fast keine Rolle spielen. Die Linken scheitern wahrscheinlich nicht an der Hürde, und sollte die FDP tatsächlich den Einzug in das nächste Parlament verpassen, sind ihre Wähler zu gleichmäßig auf die einzelnen Länder verteilt, als das sich eine große Verzerrung ergeben könnte.

Die Opposition kritisierte den Vorschlag der Koalition scharf, SPD und Grüne hatten in der Vergangenheit jeweils eigene Wahlrechtsideen unterbreitet.

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