Heraus aus der Nische mit zu viel Latte macchiato

PARTEIEN Studie: Wenn SPD und Grüne gemeinsam regieren wollen, brauchen sie eine Arbeitsteilung

BERLIN taz | Was die SPD-Strategen den beiden Forschern über ihren liebsten Koalitionspartner erzählten, war nicht gerade schmeichelhaft. Die Grünen würden von vielen Sozialdemokraten als „Nischenpartei der Latte-macchiato-Bourgeoisie“ wahrgenommen, fassten die Interviewer ihren Eindruck zusammen. Ihre eigene Partei hingegen sahen die SPDler „voll und ganz als Volkspartei der linken Mitte“.

Dass führende Köpfe von SPD und Grünen frappierende Vorurteile über die jeweils andere Partei pflegen, ist ein Ergebnis einer Studie, die zwei Forscher an der Harvard-Universität erstellt haben. Arvid Bell und Wolfgang Silbermann beschreiben auf 46 Seiten, wie Rot-Grün 2013 im Bund eine Mehrheit erreichen kann. Ihr Fazit: „Die Chance für Rot-Grün ist da“, sagt Silbermann. „SPD und Grüne müssen allerdings zu einer Arbeitsteilung und einem gemeinsamen Narrativ finden.“

Für ihre Analyse haben die Autoren 40 prominente Politiker und Strategen von SPD und Grünen interviewt. Die Gespräche führten sie im vergangenen Sommer, selbst die Spitzenleute nahmen sich meist über eine Stunde Zeit: etwa Frank-Walter Steinmeier, Peer Steinbrück oder Ex-Parteichef Franz Müntefering bei den Sozialdemokraten. Oder die Fraktionsvorsitzenden Renate Künast und Jürgen Trittin sowie Bundesgeschäftsführerin Steffi Lemke bei den Grünen. Allen sagten die Forscher zu, sie nicht zu zitieren. Deshalb redeten sie offen.

Auch das Bild der Grünen von der SPD orientiert sich an Klischees. Sie glauben die SPD „fest verankert (…) in der staats-konservativen Schicht“, so die Studie. Und sahen ihre potenziellen Partner von Links bis Rechts „auf dem Spektrum von Ottmar Schreiner bis Thilo Sarrazin“.

Strebt man einen Regierungswechsel an, bei dem es auf jeden Prozentpunkt ankommt, sind solche Fehleinschätzungen gefährlich. Denn sie können dazu führen, dass blinde Flecken bei der Wähleransprache entstehen, folgern die Autoren. „SPD und Grüne fokussieren zu sehr auf die gleiche Zielgruppe: auf links-liberale Bildungsbürger“, sagt Silbermann. Vermutlich liege das auch daran, dass die meisten Parteistrategen zu dieser Gruppe gehören.

Bell und Silbermann empfehlen eine Arbeitsteilung: Die SPD dürfe staatsnahe Wähler des linken Milieus nicht an die Linkspartei verlieren und müsse zudem bei stabilitätssuchenden Gruppen der konservativen Mitte punkten. „Das funktioniert weder mit einer technokratischen noch mit einer zu umstürzlerischen Story“, sagt Silbermann. Die Grünen hingegen müssten sich vor konservativen Avancen hüten, um Wähler am liberalen Rand nicht an die Piraten zu verlieren, und Anti-Establishment-Wähler ansprechen.

Hier zeigt sich, dass die zugrunde liegenden Gespräche vor einem knappen Jahr geführt wurden. Dass die Grünen als Piraten-Bändiger die Newcomer unter fünf Prozent halten können, ist aus heutiger Sicht ein frommer Wunsch.

Neben den Zielgruppen widmen sich Bell und Silbermann einem Lieblingsbegriff von Politstrategen: dem Narrativ, also der Erzählung. Sie glauben, dass Kanzlerin Angela Merkel am ehesten beim Thema Soziale Gerechtigkeit anzugreifen ist. Und plädieren wieder für die Arbeitsteilung. Bei vielen SPD-Wählern weckten Schlagwörter wie Wandel oder Fortschritt „nicht Begeisterung, sondern Verunsicherung“, schreiben sie. Und empfehlen der SPD geerdete Töne im Wahlkampf – nämlich Solidität und Solidarität. Eine grüne Erzählung jedoch könne „anspruchsvoller, ambitionierter, wandelorientierter“ sein.

Die beiden Forscher kommen selbst aus den Parteien. Bell, 27, saß zwei Jahre im Parteirat der Grünen. Silbermann, 25, arbeitete bis zu seinem USA-Stipendium als Referent von Steinmeier. ULI SCHULTE