Häftlinge erfahren oft Gewalt durch Mitgefangene

KNAST Die erste ausführliche Befragung zeigt: Gewalt in Gefängnissen ist die Regel

25,7 Prozent der Männer berichten über körperliche Übergriffe

BERLIN taz | „Wer will schon freiwillig der Öffentlichkeit sagen, dass ein Gefangener vergewaltigt wurde?“ Das fragte Christian Pfeiffer im Dezember 2010. Der Leiter des Kriminologischen Forschungsinstituts Niedersachsen (KFN) wollte damit erklären, warum bis zu diesem Zeitpunkt noch keine derartige empirische Studie über Gewalterfahrungen in Gefängnissen existierte, wie diejenige, mit der er damals begann. Inzwischen liegen die aufgearbeiteten Daten zu „Viktimisierungserfahrungen im Justizvollzug“ als Forschungsbericht vor.

Die Forscher haben untersucht, inwiefern die verurteilten Täter im Vollzug ihrer Freiheitsstrafe selbst zu Opfern beziehungsweise erneut zu Tätern werden. Dabei unterscheiden sie zwischen verschiedenen Stufen. So berichten 50,4 Prozent der Männer, dass sie im Monat vor der Befragung beleidigt worden seien; über sie seien Gerüchte verbreitet worden, oder andere Inhaftierte hätten sich über sie lustig gemacht. Zu „verbalen Auseinandersetzungen“ kam es bei 38 Prozent, 25,7 Prozent berichtet von körperlichen Übergriffen. 194 der 4.985 befragten Männer wurden schließlich gar Opfer von sexueller Gewalt.

Indirekte Gewalt erlebten 63,5 Prozent der inhaftierten Frauen, verbale Attacken mussten 40,1 Prozent einstecken und 16 der 461 befragten Frauen (3,6 Prozent) erfuhren sexuelle Übergriffe. Bei den Jugendlichen gaben rund die Hälfte an, im Gefängnis bereits körperlich angegriffen worden zu sein.

887 der 4.985 Befragten berichteten, während ihrer Haft einem „sehr schlimmen“ Erlebnis ausgesetzt gewesen zu sein. Weitere 682 gaben dies auch an, wollten das Erlebnis jedoch nicht näher beschreiben.

Die meisten Übergriffe bei Männern passieren in den Hafträumen, bei Frauen und Jugendlichen auf den Stationen. Das dürfte daran liegen, dass die Täter im Jugendstrafvollzug häufig in Wohngruppen untergebracht sind. Diese Befragte wurden zumeist von mehreren Tätern angegangen, wenn sie Gewalt erfuhren.

Vor allem für die erwachsenen Gefangenen haben die Gewalterfahrungen auch psychische Konsequenzen. An Depressionen leiden danach 46,1 Prozent der Frauen, 39,4 Prozent der Männer und 28,5 Prozent der Jugendlichen. Für Jugendliche ist es besonders schwer, die erlebte Gewalt auch anzuzeigen. Die Hälfte möchte nicht als Verräter stigmatisiert werden, und ein Drittel befürchtet weitere Übergriffe. Insgesamt gaben 1.021 Teilnehmer an, dass sie aus Furcht bestimmte Bereiche wie Duschen oder Flure der Anstalt meiden würden.

Die Studie verzeichnet auch „deutliche Zusammenhänge“ zwischen „erlebter verbaler und/oder körperlicher Gewalt in der Kindheit und Viktimisierungserfahrungen im Vollzug“. Drei Viertel der Befragungsteilnehmer, die als Kind Gewalt erlebten, wurden auch im Vollzug zu Opfern.

Viele Untersuchungen belegen seit Jahren, dass Gefängnisse die Gesellschaft nicht sicherer machen. Im Gegenteil: Eine Studie des Kriminologischen Forschungsinstituts ermittelte im Mai dieses Jahres, dass doppelt so viele Jugendliche (68,6 Prozent) rückfällig werden, wenn sie ins Gefängnis kommen. Bei Tätern, die nicht eingesperrt werden, liegt die Quote bei 33,7 Prozent.

Die beiden KFN-Forscher Steffen Bieneck und Christian Pfeiffer schreiben: „Gewalt unter Inhaftierten ist ein ernstzunehmendes Problem im Strafvollzug“. Ihre Studie basiert auf Daten von insgesamt 6.384 Befragten. Erhoben wurden sie in 33 Gefängnissen. KAI SCHLIETER