Die dunkle Seite der Madame Non

EU Ein Buch zur Europapolitik zeigt: Angela Merkel sind Prinzipien wichtiger als Problemlösungen

Zu viele Schulden machen ist in Merkels Logik genauso schlimm wie Menschenrechte verletzen

BRÜSSEL taz | Wenige Wochen vor der Europawahl zeigt sich Kanzlerin Angela Merkel von ihrer Schokoladenseite. Heute reist sie nach London, um Premier David Cameron den Rücken zu stärken. Doch Merkel hat auch eine andere, dunkle Seite. In der Finanzkrise stand „Madame Non“ von Anfang an auf der Bremse. Die Armutsbekämpfung sollte kein EU-Ziel werden – und Budgetdefizite wollte Merkel auf eine Stufe mit Menschenrechtsverletzungen stellen.

Dies enthüllen zwei Brüsseler EU-Korrespondenten in einem Buch, das heute in Berlin vorgestellt wird (Cerstin Gammelin, Raimund Löw: „Europas Strippenzieher“, Econ-Verlag). Ein Krimi ist es nicht, eher eine Dokumentation, die sich streckenweise etwas zäh liest. Die Autoren sind nämlich ins Archiv gestiegen und haben vertrauliche Mitschriften von den EU-Gipfeln, die sogenannten Antichi-Protokolle, ausgewertet. Das ist an sich schon ein Scoop – bisher bekamen diese Protokolle nur ganz wenige Diplomaten zu Gesicht.

Noch aufregender sind aber die geheimen Deals, die Merkel hinter verschlossenen Türen eingefädelt hat. Zum Beispiel im März 2010, mitten in der Griechenland-Krise. Die EU-Kommission wollte die Armutsbekämpfung in die EU-Strategie für 2020 aufnehmen und ein konkretes Ziel – 20 Millionen weniger Arme und Ausgegrenzte – vorgeben. Doch Merkel ist dagegen: „Zu Armutsbekämpfung wird es keine Zustimmung Deutschlands geben“, wird sie zitiert. Das sei keine Aufgabe der EU, basta.

Doch durchsetzen kann sie sich nicht. Denn Frankreichs damaliger Präsident Nicolas Sarkozy enthält sich, und Ex-Eurogruppenchef Jean-Claude Juncker bietet ihr Paroli. Juncker findet auch den Trick, mit dem das Problem gelöst wird: Man rechnet die Zahl der Armen einfach höher, dann fällt auch die Senkung leichter. Außerdem bleibt das EU-Ziel unverbindlich – bei einem Verstoß muss Deutschland keine Konsequenzen fürchten. Merkel stimmt zu, heute ist Juncker der Favorit der Union für die Europawahl.

Es war nicht das letzte Mal, dass sich Merkel als kaltherzige Prinzipienreiterin präsentierte. Noch unglaublicher klingt die Geschichte vom 28. Oktober 2010. Wieder ein EU-Gipfel, wieder Krisenstimmung. Griechenland ist immer noch nicht gerettet, bald wird Irland vor den Attacken der Märkte kapitulieren.

Merkel hat aber nichts Dringenderes im Sinn, als „Defizitsünder“ zu strafen. Und zwar mit der Höchststrafe, die im EU-Vertrag vorgesehen ist: dem Stimmrechtsentzug im Ministerrat. Damit verliert ein Land jeden Einfluss auf EU-Entscheidungen. Diese Strafe ist denn auch noch nie angewandt worden, gedacht war sie nur für schwere Menschenrechtsverletzungen.

Merkel zieht Sarkozy auf ihre Seite und macht Druck. Zu viele Schulden machen ist in ihrer Logik genauso schlimm wie Menschenrechte verletzen. Durchsetzen kann sie sich jedoch abermals nicht. Die „surrealistische Diskussion“ findet sich später in keinem offiziellen Dokument wieder – genauso wenig wie Merkels Nein zu einem europäischen Bankenrettungsfonds. Der wurde nämlich schon im September 2008 vorgeschlagen, gleich zu Beginn der Finanzkrise.

Damals kam die Idee aus den Niederlanden, Frankreich war dafür, doch Merkel sagte Nein. „Chacun sa merde – jedem seine Scheiße“, schimpfte Sarkozy. Merkel ebnete den Weg für eine rein nationale Bankenrettung – er sollte Länder wie Irland oder Spanien in den Abgrund führen. Noch heute ist die Bankenkrise nicht gelöst. ERIC BONSE