Wie Hannah Arendts Tisch im Netz verschwand

Ist das Private nur politisch, wenn nicht in Klischees darüber gesprochen wird? Ein Pamphlet auf nettime, einer Mailingliste für Netztheorie, findet das Gros der Blogs apolitisch und banal. Gleich setzte Widerrede ein, denn wo das Private öffentlich wird, hat die Theorie neuralgische Punkte

Intim ist es im Netz geworden, seit die Massen Tag und Nacht aus ihrem Leben berichten. Nirgends gehe es heute familiärer zu als in der Blogosphäre, schreiben Helen Kambouri und Pavlos Hatzopoulos in ihrem Text über die „Banalität des Bloggens“: Blogs seien ein Musterbeispiel für den heute üblichen massiven Konsum des Privaten in aller Öffentlichkeit. Auf der internationalen Mailingliste nettime, in der seit über einer Dekade über die politischen Implikationen des Netzes diskutiert wird und wo auch Kambouris und Hatzopoulos’ Pamphlet erschienen ist, hat die These von der Überflutung der Öffentlichkeit mit den „kleinen Dingen des Privaten“ prompt eine Lawine von Repliken losgetreten.

Auch wenn Kambouris und Hatzopoulos’ Text nicht nur aufgrund mancher Unschärfen wenig Zustimmung bekam, scheint er doch einen Nerv getroffen zu haben, was daran liegen mag, dass er an einer empfindlichen Stelle ansetzt. Nämlich dort, wo das Private das Öffentliche trifft, ohne noch im emanzipatorischen Sinne der feministischen Theorie als das Politische des Privaten zu figurieren. „Teenager sprechen über ihre Sexualität, Mütter teilen ihre Sorgen mit anderen Müttern, Veteranen machen die alltägliche Gewalt öffentlich, die ihr Familienleben prägt, Hausfrauen klagen über Langeweile, muslimische Frauen erzählen über ihr Verhältnis zu Gott, einsame Männer öffnen ihre Tagebücher der ganzen Welt“, schreiben Kambouri und Hatzopoulos. Die vorher aus dem öffentlichen Diskurs Ausgeschlossenen fänden zwar heute in der Blogosphäre ihren Platz, indem sie sich intimer, „weiblicher“ Praktiken bedienten, um sich „auszudrücken“. Sogar die Nichtmarginalisierten dürften sich heute „öffnen“! Und doch seien Millionen von Blogs unter dem Strich nur banal, weil hier meist nicht etwa faszinierende „Fakten“ des Privaten, sondern die immergleichen Klischees ausgebreitet würden. Blogs seien so der letzte Sargnagel einer idealerweise pluralistisch gedachten Öffentlichkeit, die sich durch Leidenschaften, Differenzen und eine Vielheit von Perspektiven auszeichnen sollte, wie Hannah Arendt einst noch gehofft hatte. Das Öffentliche werde stattdessen von einer austauschbaren Subjektivität ausgefüllt, mahnen Kambouri und Hatzopoulos.

Auch auf die Blogs treffe die Metapher zu, mit der Arendt einst die vermittelnde Funktion von Öffentlichkeit beschrieb. „Was die Verhältnisse in einer Massengesellschaft für alle so schwer erträglich macht, liegt nicht eigentlich, jedenfalls nicht primär, in der Massenhaftigkeit selbst, es handelt sich vielmehr darum, dass in ihr die Welt die Kraft verloren hat zu versammeln, d. h. zu trennen und zu verbinden. Diese Situation ähnelt in ihrer Unheimlichkeit einer spiritistischen Séance, bei der eine um einen Tisch versammelte Anzahl von Menschen plötzlich durch irgendeinen magischen Trick den Tisch aus ihr Mitte verschwinden sieht, sodass nun zwei sich gegenüber sitzende Personen durch nichts mehr getrennt, aber auch durch nichts Greifbares mehr verbunden sind“, schrieb Arendt 1960. Dabei gelte es doch vielmehr, repräsentativ zu denken, „mit Hilfe der Einbildungskraft, aber ohne die eigene Identität aufzugeben, einen Standort in der Welt einzunehmen, der nicht der meinige ist“. Blogging, meinen wiederum Kambouri/Hatzopoulos, schaffe eine familiäre, apolitische Form der Öffentlichkeit, weil die hier agierenden Subjekte sich als fixe Identitäten begriffen.

Auf nettime wurden daraufhin mehr und weniger gute Argumente gegen die „Banalität des Bloggens“ formuliert. Das sei ein Vorwurf, hieß es etwa, der sich ohne weiteres auf alle bekannten Medien ausdehnen ließe. Doch niemand verwies auf die Arbeiten von Eva Illouz, die im Fall von Online-Datingservices nachgewiesen hat, wie stereotyp und selbstverdinglichend sich Leute in den neuen romantischen Konkurrenzverhältnissen verhalten. Auch Marshall McLuhan scheint vergessen, den der Horror ergriff, als er vom globalen Dorf sprach. Das war nämlich nicht als freundliche Metapher gemeint, sondern als Warnung vor dem irrationalen Tribalismus, der sich unweigerlich einstellt, wenn die Welt durch elektronische Medien zusammenrückt. An die Panik, die McLuhan als stetige Begleiterin der Dorfgemeinschaft fürchtete, hat man sich leidlich gewöhnt. Nun gilt es wohl auch noch auszuhalten, dass Hans und Gabi uns mit ihren Intimitäten immer näher auf den Leib rücken.

ULRICH GUTMAIR

Nachzulesen auf www.nettime.org