Ein ungleiches Paar

Die Musik von Chica And The Folder scheint immer zugleich hier wie dort, und das erklärt sich ganz einfach aus dem Leben der Beteiligten zwischen Chile und Berlin. „Under The Balcony“ heißt das neue Album von Paula Schopf und Max Loderbauer

VON THOMAS WINKLER

Selbst am Heiligen Abend des Jahres 1997 versuchte der Zeitungsverkäufer sein Produkt an den Mann zu bringen. Sein Ruf schallte durch Santiago de Chile, wurde eingefangen von Besuchern aus dem fernen Deutschland, und ein Soundschnipsel trat eine lange Reise an. Zehn Jahre später findet sich die archaische Werbebotschaft, vollkommen losgelöst von ihrem Urheber, als zentrales Motiv des ersten Tracks des neuen Albums von Chica and the Folder.

Das mag nur ein kurzer Moment sein auf „Under The Balcony“, aber nicht umsonst eröffnet er das Album. Denn er ist bezeichnend für das Berliner Duo, das in seiner Musik beständig zwischen den Welten wandelt, zwischen Europa und Südamerika, Electro und Folklore, Pop und Protest. Die Musik scheint immer zugleich hier wie dort, wenn verquere Beats einsetzen und damit die Wohligkeit der den Magen massierenden Basslines wieder abschaffen. Oder wenn in „Deside el balcón“ ein so schwere- wie rhythmusloses Rauschen und Schwelgen aus einem Ambient-Aquarium überlagert wird von einem einsamen, aber entschlossen rhythmischen Klagegesang, der so dringlich klingt wie ein Kassiber aus dem Knast.

Es sind diese Diskrepanzen und ihre Versöhnung miteinander, die Chica and the Folder so einzigartig machen. Sie erklären sich ganz einfach aus der Biografie der Beteiligten. Paula Schopf wurde in Chile geboren, Max Loderbauer gut 12.000 Kilometer entfernt im Bayerischen. Mit 19 Jahren übersiedelte Schopf endgültig nach Deutschland, Loderbauer ist mittlerweile schon gut zehnmal nach Chile gereist. Chica and the Folder aber konnten nur in Berlin entstehen. „Wäre ich in Chile geblieben“, sagt Schopf, „dann hätte ich sicher ganz andere Musik gemacht – schon weil ich Max nicht kennengelernt hätte.“ Ergänzt Loderbauer, vielleicht mit sanftem Widerspruch: „Aber direkten Einfluss auf die Musik hat eher Santiago.“

Tatsächlich wirkt „Under The Balcony“, auf dem Schopf meist in ihrer Muttersprache singt, wie ein interessierter, teilweise gar erstaunter Blick aus der Berliner Ferne auf das südamerikanische Land. Das Berliner Wissen um das Techno-Brett, um Electronica oder Minimal Techno ist die Hintergrundfolie, vor der sich Chica and the Folder der Traditionen aus Schops Heimat annehmen – des Agitpropsongs, der Liedermachergitarre –, Arbeiterlieder und indianische Folklore adaptieren und modernisieren, sogar immer wieder tanzbar machen.

Diese Fusion ist nicht immer einfach, wirkt aber am Ende doch selbstverständlich. Also ziemlich genau so, wie es sich auch sonst darstellt, das Verhältnis zwischen einem 48-jährigen Bayern und einer 37-jährigen Chilenin, die sich nie offen widersprechen, aber sich auf eine seltsam vertraute Art auch nur selten wirklich einig sind. „Irgendwie schon autobiografisch“ findet Schopf die gemeinsame Musik. „Eher aus dem Moment“ entstünde sie, meint Loderbauer.

Sie sind ein ungleiches Paar. Als die Familie von Schopf aus politischen Gründen die Heimat verlassen musste, war die kleine Paula drei Jahre alt. Vier Jahre lebt sie in Frankfurt, bevor sie mit der Mutter zurückkehrte. Als sie die elektronische Musik entdeckt, ist sie geprägt von den kämpferischen Liedern gegen die Diktatur, aber auch von der US-amerikanischen New Wave der Achtzigerjahre. In Berlin dann lernt sie Film-Cutterin und kommt eher zufällig zum Plattenauflegen, ist mittlerweile ein international gebuchter DJ. Loderbauer hat eine klassische Musikerziehung genossen und als eine Hälfte von Sun Electric seit den frühen Neunzigern an der Entwicklung der sogenannten Intelligent Dance Music mitgewirkt. Bevor die beiden mit gemeinsamer Musik anfingen, kannten sie sich schon lange über das Umfeld von Thomas Fehlmann und Gudrun Gut, den Ocean Club, das Monika-Label. Irgendwann kauften sich Sun Electric neues Equipment und überließen Schopf den ausrangierten Computer. „So hat es angefangen mit mir und dem Musikproduzieren“, sagt sie trocken.

Bald danach tat man sich als Arbeitsduo zusammen. Beim ersten Album „42 Mädchen“ (2003) war er noch fast allein für die Musik zuständig. Nun verteilen sich die Rollen, Loderbauer steuert vornehmlich Harmonik und Melodien bei, Schopf Texte und Rhythmen. Das Ergebnis ist größer als die Summe seiner Teile. „Man kann es nicht nebenher dudeln lassen“, sagt Loderbauer über das neue Album, „dazu ist es zu vielfältig“. Aber, widerspricht Schopf ein wenig: „Fast alle Stücke haben diesmal einen Rhythmus, das ganze Album ist soundmäßig einheitlicher.“ Chica and the Folder sind immer noch auf Reisen, aber sie kommen zusammen irgendwo an.

Chica and the Folder: „Under The Balcony“ (Monika Enterprise/ Indigo) Live am 4. 11. in der Volksbühne bei der „10 Jahre Monika Nacht“