„Fast aus der Hanse geflogen“

Die Mythen sind zahlreich, und gern begreift sich der Hanseat als Nachfolger der Hanse-Kaufleute oder gar des rechtschaffenen Klaus Störtebeker, des Robin Hood der Meere. Wahr ist davon fast nichts. Das erweist die aktuelle Ausstellung im „hamburgmuseum“. Direktorin Gisela Jaacks erklärt warum

GISELA JAACKS, 63, ist seit 2002 Direktorin des „hamburgmuseums“, des ehemaligen Museums für Hamburgische Geschichte.

INTERVIEW PETRA SCHELLEN

taz: Frau Jaacks, haben Sie eine Ausstellung gegen die Lüge gemacht?

Gisela Jaacks: Plakativ ausgedrückt: Ja. Im Einzelnen soll diese Ausstellung zur Reflexion darüber anregen, wie sich ein Geschichtsbild entwickelt und welche Facetten besonders im Gedächtnis des Einzelnen haften bleiben. Was uns vorschwebt, ist eine Auseinandersetzung mit Erinnerungskultur.

Welche Ären der Hamburger Geschichte wurden besonders stark verfälscht beziehungsweise zu Mythen umgedeutet?

Dafür eignen sich vor allem die Epochen, über die man wenig weiß, die aber für die eigene Identitätsfindung zentral sind. Das ist einerseits die Gründung Hamburgs, von der man immer noch nicht weiß, wann und unter welchen Umständen sie stattfand. Man hat Siedlungsspuren gefunden, weiß aber bis heute nicht, ob sie von Sachsen oder Slawen stammen. Und wovon haben diese frühen Siedler gelebt: Waren es Fischer, Jäger oder Sammler? Wie verhielt es sich mit der offiziellen Besiedlung, die vermutlich mit der Ausdehnung des Frankenreichs unter Karl dem Großen zu tun hatte? In den Geschichtsbüchern steht immer noch, dass Karl der Große Gründer Hamburgs war. Aber das stimmt so nicht. Er war nie hier und hat nie explizit gesagt: Jetzt will ich hier Hamburg gründen. Und er hat auch nicht einfach Bischof Ansgar beauftragt, von Hamburg aus den Norden zu missionieren. Abgesehen davon besagt der Mythos, dass das alles sehr friedlich zuging. Tatsächlich standen die Hamburger dem Christentum, gelinde gesagt, äußerst skeptisch gegenüber. Sie wurden nicht freiwillig bekehrt – zumal dahinter die lanzenbewehrten Krieger des Frankenkönigs standen.

Aber, dass die Hammaburg Keimzelle der Stadt Hamburg war, ist doch wenigstens sicher?

Auch das wissen wir nicht genau – und auch nichts über ihr Verhältnis zur Bischofsburg. War die Hammaburg vorchristlich, oder war sie es nicht? Haben sich die späteren Missionszentren auf bereits vorhandenen Siedlungen gebildet?

Aber die exakte Lage der Hammaburg kennt man immerhin.

Ja – wobei ganz allgemein die Frage ist, wie nah damals am Wasser gesiedelt wurde. Wie war die geologische Struktur, wo war der Geestrand. Fakt ist, dass es höchst bizarre Darstellungen gibt, auf denen die Franken per Schiff anlanden, und oben wartet schon die stolze Burg. Dazwischen tauft Ansgar im Beisein von Karl dem Großen die Hamburger. Diese zeitliche Kongruenz ist eine Mär.

Und solche stellt Ihre Ausstellung richtig?

Zentrales Element unserer Schau und Beleg für die populärsten Mythen sind einige Geschichtsbild-Zyklen, die um das Jahr 1900 entstanden. Dabei handelt es sich einerseits um Entwürfe für die Ausmalung des Großen Festsaals des Hamburger Rathauses. Außerdem stellen wir die Illustrationen des 16. deutschen Bundesschießens in Hamburg aus, die Hermann de Bruycker 1909 schuf. Sie sollten – neben dem aktuellen Anlass – für Einheimische und Besucher die Geschichte Hamburgs von den Anfängen bis 1909 möglichst lückenlos darstellen. In diesen Gemälden spiegelt sich sehr deutlich die Vorstellung, die das 19. Jahrhundert von der eigenen Geschichte entwickelt hatte. Und eben auch die Mythen – beides zusammen war Voraussetzung für die Herausbildung einer kollektiven Identität, die von den Herrschenden gezielt betrieben wurde. Nationenbildung im modernen Sinne ist ja Sache des 19. Jahrhunderts.

Und Ihre Ausstellung zeigt minutiös, welche Details dieser Historiengemälde falsch sind?

Die Richtigstellung leisten wir in unseren Begleittexten. Abgesehen davon setzen wir auf den kritisch reflektierenden Besucher, der im übrigen herzlich eingeladen ist, sich zu fragen, an welche dieser tradierten Mythen er selbst noch glaubt.

Aber die immense Bedeutung der Hanse für Hamburg ist doch unstrittig, oder?

„Unsere Ausstellung regt den Besucher an, über die Frage zu reflektieren, an welche dieser Mythen er selbst noch glaubt“

Es ist vielleicht betrüblich zu hören, aber Hamburg war nicht die bedeutendste Stadt der Hanse. Die Hamburger sind damals vor allem dadurch aufgefallen, dass sie die Statuten der Hanse ständig verletzt haben. Die besagten zum Beispiel, dass keine Fremden angesiedelt werden dürften, dass man nur mit bestimmten Gütern auf bestimmten Wegen handeln durfte und dass man sich bestimmten Kontoren anschließen musste, anstatt selbstständig Handel zu treiben. Die Hamburger haben sich an nichts von all dem gehalten und damit ständig riskiert, aus der Hanse geworfen zu werden. Abgesehen davon begann die Blütezeit des Hamburger Handels erst im 16. Jahrhundert, als die Hanse längst keine Bedeutung mehr hatte. Offiziell aufgelöst ist die Hanse allerdings bis heute nicht. Der letzte Hansetag, an dem nur noch Lübeck, Bremen und Hamburg teilnahmen, fand 1669 statt. Die Hanse war also sicherlich ein wichtiger Faktor. Aber wenn sich Hamburg drauf beruft, eine ganz große Hansestadt gewesen zu sein, und behauptet, dass Hamburg wahnsinnig viel für die Hanse getan habe – dann sollte man genauer hinschauen. Denn so war das alles nicht.

Wie viel vom Mythos um Klaus Störtebeker ist denn wahr?

Es fängt schon mal damit an, dass die Hamburger die Hanse angeblich vor Piraten gerettet haben, was so nicht stimmt. Die Schwierigkeit an der Störtebeker-Geschichte ist außerdem, dass sie erstmals 50 Jahre nach der Hinrichtung von Piraten, die tatsächlich um 1400 bei Helgoland aufgebracht wurden, in den Chroniken auftaucht. Der Name Störtebeker erscheint, der Vorname fehlt aber. Dazu gibt es inzwischen verschiedene Theorien: Entweder wurde kein Pirat dieses Namens hingerichtet. Oder er hat keine so herausragende Rolle gespielt, wurde aber zum Mythos erhoben, weil der Name so erschröcklich klingt. Auch dass er der Robin Hood der Meere gewesen sei, der den Armen gab, was er den Reichen nahm, stimmt nicht. Man weiß über all dies nicht viel – weswegen wir in unserer Dauerausstellung den Totenkopf, der von einem um 1400 auf dem Grasbrook hingerichteten Mann stammt, schlicht „Piratenschädel“ nennen. Alles andere wäre vermessen.

Widerlegt Ihre Ausstellung auch jüngere Mythen?

Ja – und zwar den vom angeblich gar nicht so hitlerfreundlichen Hamburg. Es gibt etliche, die sagen, dass Hitler nur selten in Hamburg gewesen sei, dass er Hamburg gar nicht so mochte – und dass es unglaublich viele Widerständler gegeben habe. Zumindest die These, dass ihm kaum jemand zugejubelt habe, widerlegen wir eindrucksvoll durch Fotos. In diesem Fall illustrieren wir also nicht den Mythos sondern die Realität. Das wird etliche schmerzen, denn dass sich die breite Masse auch in Hamburg hat verführen lassen, möchte man nicht so gern wahrhaben. Und wenn dies auch keine so verfestigten Mythen sind wie der von Störtebeker oder von der Hanse, war dieses Kapitel für mich doch enorm wichtig, um darauf hinzuweisen, dass Geschichtsbilder, die einem vorgesetzt werden, überprüft werden müssen. Wenn es um die Ursprünge Hamburgs geht, ist das zwar harmlos. Dreht es sich aber um menschenverachtende Massenhysterien, kann solche Ignoranz irgendwann gefährlich werden.

Die Ausstellung „Hamburgs Geschichte – Mythos und Wirklichkeit“ ist bis 10. August im hamburgmuseum zu sehen