Der Wille zum Klangraum

Wer sich nicht bewegt, erfährt wenig: Der Hamburger Bahnhof zeigt Bernhard Leitners „TonRaumSkulptur“. Mit ihr erkundete der Künstler in den Siebzigerjahren einen neuen zeit- und bewegungsabhängigen Raumbegriff

Bernhard Leitner ist ein Architekt, der Räume baut. Das, so könnte man völlig zu Recht einwenden, tun andere Architekten auch. Was den Österreicher von den meisten Vertretern seiner Zunft unterscheidet: Er baut seine Räume mit Tönen. Schon seit vierzig Jahren widmet sich Leitner den gestalterischen Möglichkeiten seines neuen Raumbegriffs. Die ersten und entscheidenden Schritte auf seinem Denkweg kann man derzeit im Hamburger Bahnhof in der Ausstellung „Bernhard Leitner – TonRaumSkulptur“ nachvollziehen, die eine frühe Arbeit des Künstlers aus dem Jahr 1971 aufgreift und mit modernen Steuerungsgeräten realisiert.

Viel zu sehen gibt es nicht im White Cube – ein paar schlichte Holzlatten, an denen in regelmäßigen Abständen Lautsprecher befestigt sind, das ist alles. Dafür gibt es umso mehr zu hören. Klänge bewegen sich im Raum, drehen sich um den Hörer und verändern sich mit seinen Bewegungen. Mal ist es ein leiser, pochender Klang, der durch den Raum wandert, mal kreist der Flatterton einer Flöte spiralförmig um den Hörer, dann wieder sind es Stimmen, die sich zu Klang-Ereignissen formen.

Worum geht es Leitner in dieser Skulptur? „Der zentrale Gedanke ist, mit Klang Räume zu bauen, die aber immer Innenräume sind, das heißt, sie sind immer körperbezogen.“ Diese Räume existieren also nicht unabhängig vom Hörer, sondern nur in seiner Wahrnehmung. Zudem entstehen sie relativ zu den Bewegungen des Hörers. Hören hat für den studierten Architekten Leitner immer mit Bewegung zu tun. Lautsprecher werden in unterschiedlicher Aufeinanderfolge angesteuert und erzeugen so, als „Klang-Raum-Ereignisse“, den Ton-Raum.

„Im klassischen Vokabular unserer Raumsprache, die von der Architektur her kommt, ist alles, was sich auf den Raum bezieht, statisch gedacht.“ Leitners Ton-Räume hingegen sind Zeit-Räume, mithin dynamisch. „Ich mische das klassische Vokabular der Raumsprache mit dem Vokabular der Klangsprache.“ Klänge sind definitionsgemäß zeitliche Ereignisse mit einem Anfang und einem Ende. Diese Eigenschaft von Klängen überträgt Leitner auf die Ton-Räume: „Ein Raum entsteht, er wiederholt sich, wird variiert, vergeht und kommt wieder.“ Denn es gibt ihn nur so lange, wie die Töne erklingen. Schaltet man die Lautsprecher aus, ist der Raum weg.

Dieses Raumverständnis ist nicht nur neu, sondern auch ohne historische Vorbilder. „Als ich angefangen habe, war das komplettes Neuland“, so Leitner. Selbst Experimente mit Musik im Raum wie die „Oktophonie“ Karlheinz Stockhausens verfolgten einen anderen Ansatz, der Raum werde von Musikern nicht mit Klang „gestaltet“. Vielmehr handle es sich um eine „Verräumlichung der Musik“, die allein auf die Ohren bezogen sei, ohne den Rest des Körpers zu berücksichtigen. Erst durch die Einbeziehung des Körpers werde der Klang auch skulptural.

Leitner arbeitet daher mit Tönen, die so wenig wie möglich an Musik denken lassen. „Alles, was das Gehirn, das an Musik gewöhnt ist, davon ablenken könnte, Raum zu hören, versuche ich auszuschalten.“ Ob man einen Raum höre oder nicht, sei weniger eine Frage des Könnens als des Wollens. Dazu ist Offenheit erforderlich: „Nicht der Verstand ist das Wesentliche, sondern der Wille“, erklärt er in Anlehnung an Ludwig Wittgenstein. Die Anspielung auf den österreichischen Philosophen ist kein Zufall: Leitner hat das von Wittgenstein für seine Schwester Margarete Stonborough-Wittgenstein in Wien gebaute Haus im Jahre 1971, zur Zeit der Arbeit an der Ton-Raum-Skulptur, vor dem Abriss gerettet.

Die Ton-Raum-Untersuchungen, die Leitner zwischen 1968 und 1976 in New York vorantrieb, dokumentiert die Ausstellung mit Skizzen, Modellen oder Fotografien. Spiralräume sind zu sehen, die sich röhrenförmig um den Hörer drehen, Wände voller Lautsprecher mit verschiedenen Ton-Linien, aber auch haufenweise Lochstreifen. Die damalige Technik erforderte eine immense Programmierarbeit für die gezielte Steuerung von Tönen im Raum. „Es war gar nicht leicht, den Klang zu bewegen“, erinnert sich Leitner. „Ich musste erst ein Instrument dazu erfinden.“

Die frühesten Arbeiten kontrollierte er sogar mit der Hand – die zugehörige Kurbel findet sich ebenfalls unter den Exponaten. Viele der frühen Entwürfe sind auch heute kaum zu realisieren. Leitner, der bis zum Jahr 2005 als Professor an der Wiener Universität für angewandte Künste lehrte und seinen Ansatz stetig weiterentwickelte, bezeichnet diese Periode denn auch als „Denkraum“, als eine „Utopie, die man nicht realisieren konnte“. Für seine weitere Entwicklung war diese Phase gleichwohl entscheidend. „Dieses Gestalten ist eine hochinteressante Untersuchung unserer Hörmöglichkeiten. Und die sind noch lange nicht ausgetestet.“

Leider ist das Hören nicht nur auf die Ohren reduziert worden, sondern gegenüber dem Sehen so sehr ins Hintertreffen geraten, dass man laut Leitner das Gehör als ästhetische und räumliche Kategorie erst neu entwickeln muss. „Durch die vorherrschende visuelle Kultur ist das Hören praktisch wieder zu entdecken.“ Und damit beginnt man am besten gleich in seiner TonRaumSkulptur.

TIM CASPAR BOEHME

Hamburger Bahnhof, Di.–Fr. 10–18 Uhr, Sa. 11–20 Uhr, So. 11–18 Uhr, bis 24. März