Scheherazade als blinder Derwisch

„Bab’ Azis – Der Tanz des Windes“ von Nacer Khemir feiert einen weltoffenen, warmherzigen Islam

Ein alter Mann, dem Tode nahe, zieht mit seinem Enkelkind, das noch am Beginn des Lebens steht, durch die Wüste. Dies ist offensichtlich ein narrativer Topos, der in der orientalischen Kultur sehr beliebt ist. In „Erde und Asche“ von Atiq Rahimi, der im Januar im Kino 46 gezeigt wurde, wanderte solch ein Paar verloren durch den Staub des Krieges von Afghanistan.

Fast scheint es, als habe der tunesische Filmemacher Nacer Khemir einen Gegenentwurf dazu drehen wollen. Denn während in Rahimis Film nicht nur die Dörfer, sondern auch die Hoffnungen zerschossen und zerbombt wurden, spielt „Bab’ Azis“ in einer poetischen Märchenlandschaft, in der zwar Autobusse, Flugzeuge und Motorräder auftauchen, die aber im Grunde die zeitlose mythische Wüste von „1001 Nacht“ ist. Der blinde Derwisch Bab’ Azis wandert zusammen mit seiner Enkeltochter Ishtar durch diese archaischen Weiten, um zu einer großen Versammlung von Sufis zu gelangen, die nur alle 30 Jahre stattfindet, wobei allerdings niemand den genauen Treffpunkt kennt, denn „nur das Herz kann den richtigen Weg weisen“.

Das Kind ist ungeduldig und hat wenig Lust, mit dem alten Mann durch den immer gleichen Sand zu laufen. Doch wie Scheherazade verführt der alte Mann mit einer Geschichte, der das junge Mädchen gebannt zuhört, und die sich in viele andere Märchen, Legenden und Gleichnisse verzweigt. Der Film wechselt so ständig die Ebenen. Aber selten sind im Kino diese Sprünge vom Erzähler zum Erzählten und dann gleich weiter zur nächsten Erzählung so elegant und bruchlos inszeniert worden. Denn wenn der alte Mann etwa von dem Prinzen erzählt, der sein prächtiges Wüstenzelt verlässt, um einer Gazelle zu folgen, die ihn zu einem Brunnen führt, an dessen Grund er dann viele Jahre lang seine Seele betrachten wird, dann ist dies von Khemir so fotografiert worden, als könne die Geschichte gleich hinter der nächsten Düne passieren. Über dem gesamten Film liegt eine angenehm-kontemplative Ruhe, und alle Geschichten darin haben eher eine spirituelle als melodramatische Bedeutung.

Nacer Khemir feiert in seinen Filmen die Poesie und Weisheit der morgenländischen Erzählkultur. Dies ist der letzte Teil seiner Trilogie, in der er versucht, die toleranten und humanen Aspekte des muslimischen Glaubens zu betonen. 1990 wurde sein „Das verlorenen Halsband der Taube“, in dem er der verlorenen maurischen Kultur in Spanien ein Denkmal setzte, ein internationaler Erfolg. In „Bab’ Azis“ konzentriert er sich auf die Tradition der Sufis, jener Mystiker des Islam, die sich keinem festen Dogma beugen, und die individuelle Reise zum Glauben hin propagieren. Der Film beginnt mit dem Credo „Es gibt so viele verschiedene Wege zu Gott, wie es Menschen gibt“, das den Glaubenshütern etwa im Iran sicher nicht gefallen wird. In diesem Sinne ist dies ein politischer Film, in dem das Treffen der Derwische, die aus den weitesten Winkeln der islamischen Welt angereist sind und zu Ehren Allahs singen, tanzen und in Trance fallen, als eine bunte, sinnliche und freundschaftliche Begegnung gezeigt wird.

Khemir sagt selbst: „Fundamentalismus und Radikalismus sind ein Zerrspiegel des Islam. Dieser Film ist ein bescheidener Versuch, ihm sein wahres Bild zurückzugeben. Keine andere Aufgabe schien mir wichtiger zu sein.“ Und weil er durch die Verführungskraft von Geschichten überzeugen will, die durchweg eine ganz eigene Weisheit und Wärme verströmen, ist ihm ein sehr schöner, kluger und humaner Film gelungen.

Wilfried Hippen