Vom Acker in den Äther

Vor der Quote war die Kunst: Die Bremer Weserburg zeigt eine Ausstellung über Radio-Art, die die avantgardistischen Verdienste des Bremer Senders ins rechte Licht rückt. Dessen Reihe „pro musica nova“ ist allerdings seit sieben Jahren tot, mittlerweile ist das Wiener „Kunstradio“ radiophon ganz vorn

VON HENNING BLEYL

Als Wolf Vostell 1974 mit seinem Richtmikrofon über einen Worpsweder Acker stapft, ist die Welt elektronischer Happenings noch in Ordnung. Genauer: Es gibt noch die Radio Bremen-Sendereihe „pro musica nova“, europaweit ein Vorreiter avantgardistischer Klangversuche. Vostell ist mittendrin: Über den nassen Boden nahe des Teufelsmoors spannt der Happeningkünstler meterlange Drähte und lädt zwei Dutzend Klangaktivisten ein, mit verchromten Spaten tüchtig den Acker zu bearbeiten. Damit diese „Intervention in die Landschaft“ von letzterer nicht überhört werden kann, blasen am Feldrain geparkte Lautsprecherwagen den Sound über die vermatschten Wiesen. Das weniger wetterfeste Publikum wird in der Kunsthalle mit Funksignalen versorgt.

In den Räumen der „Weserburg“, des Bremer Museums für moderne Kunst, hört sich das heute so an: Fiuuuuui, peng peng, wrrrr, uitsch. Was wie ein alter Kriegsfilm klingt, dessen Detonationen von Rückkoppelungen futuristisch verfremdet werden, war für Vostell die „Vermischung von körperlicher und technoider Akustik“. Damit gilt „Umgraben“ als Klassiker der so genannten Radiokunst, der die Weserburg als „Art on Air“ derzeit eine umfangreiche Ausstellung widmet.

Hamburger BesucherInnen haben den Vorteil, sich nicht lange mit theorielastigen Definitionen des Begriffs als „interdisziplinärem Zwischenbereich der bildenden Kunst, experimentellen Literatur und Neuen Musik“ herum schlagen zu müssen. Eine Erinnerung an die Aktionen der Gruppe „Ligna“ genügt, um sich auch die gesellschaftspolitisch relevanten Dimension der Radiophonie vor Augen zu führen: „Ligna“ veranstaltete zuletzt Anfang Februar am Mönckebergbrunnen eines seiner „Radioballette“: Synchron-Choreografien im öffentlichen Raum, deren TeilnehmerInnen über ein tragbares Empfangsgerät instruiert werden. In der Weserburg ist unter anderem die umfangreiche juristische Auseinandersetzung dokumentiert, mit der das Hamburger Bahnhofsmanagement – letztlich erfolglos – die „Übung in unnötigem Aufenthalt“ verhindern wollte.

Und in Bremen? Dort fiel im Jahr 2000 die „pro muscia nova“ dem neu geregelten Finanzausgleich innerhalb der ARD zum Opfer. Damit ging eine fast vierzigjährige Avantgarde-Ära zu Ende, die Bremen zu einem Mekka für Musikexperimenteure gemacht hatte. Karlheinz Stockhausen ließ live auf der Bühne Äste knacken („Herbstmusik“), Charlotte Moormann spielte nackt auf ihrem Cello aus rosafarbenem Eis und verwandelte das tropfende Tauwasser in eine „Ice Music for Bremen“. Dort, wo heute mit wechselhaftem Erfolg Musicals aufgeführt werden, im ehemaligen Bremer Zentralbad, animierte Max Neuhaus seine ZuhörerInnen zum submarin zu rezipierenden Klangbad.

Einiges davon ist jetzt in der Weserburg zu sehen, zunehmend auch zu hören: 1.000 Hörstunden hat das „Radiokunst-Archiv“ bereits gespeichert, es ist das erste deutschsprachige mit umfassendem Anspruch.

Eben dieser Anspruch hat seine Tücken. Obwohl die Sender kaum noch etwas davon ausstrahlen, horten sie eifersüchtig ihre Lizenzrechte. Die öffentlich-rechtlichen Anstalten haben mitnichten öffentliche Archive, aber nach längeren Mühen, sagt Kuratorin Anne Thurmann-Jajes, hätten sich die meisten ARD-Anstalten dann doch bereit gefunden, ihre Hörschätze zur Verfügung zu stellen – soweit sie noch auffindbar waren.

In Österreich stellt sich die Situation besser dar. Das ORF-„Kunstradio“ ist eine bemerkenswert produktive radiophone Nische, die sich zu ganzen „Nächten der Radiokunst“ ausdehnt. Seit 1987 ist es wöchentlich auf Sendung. Bemerkenswert ist dabei nicht nur, dass zugunsten des experimentellen Formats ein konventioneller Kunstreport gecancelt wurde, sondern auch, dass der so eroberte Sendeplatz zum Ausgangspunkt für zahlreiche Abstecher ins „Normalprogramm“ wurde. „Made in Hongkong“ zum Beispiel besteht aus der live übertragenen Funkverbindung zu Künstlern in der Pilotenkanzel eines Fliegers auf dem Weg nach Fernost.

Nun soll man nicht denken, Radiokunst wäre nichts fürs Auge. Die Partitur der Vostell‘schen Medienoper „Im Garten der Lüste“ ist in ihrer vielgestaltigen Notation ein visueller Genuss, als Libretto dient König Salomons „Hohes Lied der Liebe“. Eigentlich sollte das Bremer Theater als Produzent auftreten, doch dessen SängerInnen streikten angesichts der „unzumutbaren Partitur“. Mehr Glück mit den Bremer Musentempeln hatte John Cage, auch das ist in der Weserburg eindrucksvoll aufbereitet: 800 Instrumentalisten drängten sich im Überseemuseum, um als „House full of Music“ die Zuhörer selbst zu Komponisten zu machen. Die letzte Neuaufführung des interaktiven Spektakels – ein Zufall ist das nicht – gab es Anfang des Jahres in Österreich zu hören.

„Art on Air“: bis zum 24. August im Studienzentrum für Künstlerpublikationen der Bremer „Weserburg“