Neues Buch zur "Beutekunst": Macht, Geld und Profilneurosen

Reise in die russische Provinz: Die Journalistin Kerstin Holm verfolgte die verschlungenen Wege, auf denen nach dem Krieg deutsche Kunstwerke bis nach Irkutsk gelangten.

In der Marienkirche von Frankfurt (Oder) bestaunen Besucher 2007 drei restaurierte Fenster, die 1945 als "Beutekunst" in die Sowjetunion gelangt waren. Bild: dpa

"Beutekunst" oder "kriegsbedingt verlagerte Kulturgüter"? In Fachkreisen war es zwar ein offenes Geheimnis, aber die Diskussion über dieses heikle deutsch-russische Thema wurde im April 1991 mit einem Aufsatz im US-Magazin ARTnews kräftig angeheizt, als ausgerechnet zwei sowjetische Kunsthistoriker die Existenz von deutschen Kunstschätzen in russischen Sonder- und Geheimdepots enthüllten.

Kerstin Holm, seit 17 Jahren als Kulturkorrespondentin für die Frankfurter Allgemeine Zeitung in Moskau tätig, nähert sich in ihrem Buch "Rubens in Sibirien" diesem komplexen Problem nun auf anregend unkonventionelle Weise, indem sie nicht nur die unterschiedlichen politischen und juristischen Positionen darstellt, sondern diese auch kunstgeschichtlich, geschichtsphilosophisch und nationalpsychologisch einbindet.

Die Standpunkte sind bekannt: Deutschland beharrt auf der Landkriegsordnung von 1907 und deren Formel, die Kunstgüter gegen kriegerische Gewalt "immunisiert". Die russische Rechtsorthodoxie argumentiert mit dem faktischen Recht des Siegers und dem moralischen Recht des Angriffsopfers, dass die deutschen Besatzer durch die Zerstörung und den Raub russischer Kunstwerke eben genau gegen die Landkriegsordnung verstoßen, sie außer Kraft gesetzt und somit auch den überfallenen Sowjetstaat davon entbunden hätten.

Bis auf vereinzelte Goodwill-Gesten ist eine Verständigung nicht in Sicht. 1997 und 1999 zementierten und erhoben die Duma und das russische Verfassungsgericht das Verständnis von der legitimen Selbstentschädigung im Sinne einer "kompensatorischen Restitution" zur internationalen Rechtsnorm.

Holm übergeht die bekannten, in der St. Petersburger Eremitage und im Moskauer Puschkin-Museum befindlichen Kriegsschätze und begibt sich auf eine Reise zu russischen Provinzmuseen bis ins sibirische Irkutsk, wo sie Bilder aus Berlin, Schwerin und Potsdam aufstöbert. Das, was Russland ausmacht, ist nach Holm "armselige Unendlichkeit". Die Erfahrung der russischen Weiten ist für Holm erkenntnisreich: Ihr Verständnis für den Wert der russischen Kunst steigert sich, ebenso erfährt sie in diesen isolierten Kontexten auch viel über die ideologischen und kunstgeschichtlichen Motivationen (und erotischen Vorlieben) der russischen Kunstdiebe.

"Geprägt von einem unheilbaren Minderwertigkeitskomplex" (Holm), erblüht eine eigenständige russische Kunst tatsächlich erst zu Beginn des 19. Jahrhunderts. Prägnant schildert Holm die Entwicklung von der Ikonenmalerei über die dezidiert nationale Schule der Wandermaler hin zur Avantgarde zu Beginn des 20. Jahrhunderts und zur Sowjetklassik. Die hellsichtige Liebe der Autorin für ihr Gastland ist offensichtlich, auch wenn sie sich bei einzelnen Überlegungungen zur russischen Mentalität und zum russischen Nationalcharakter auf ein schlüpfriges Terrain begibt (die russische Gesellschaft kennzeichne ein "Mangel an Intersubjektivität" und sei - nach Oswald Spengler - "magiegläubig").

Ansonsten taucht Holm, assoziationsreiche Bögen schlagend, fundiert in die russische Ideengeschichte ein und vermittelt interessante Einsichten in die tieferen Beweggründe für die russische Position bezüglich der aus Deutschland stammenden Kunstwerke.

Worum gehts? Um etwa eine Million Kunstwerke, die noch in Russland lagern (dabei wird gern übergangen, dass Russland in den 1950er-Jahren etwa eineinhalb Millionen Kunstwerke an die DDR zurückgab); auf der russischen Gegenrechnung finden sich rund eine Viertelmillion verlorener Kunstwerke und hundert vollständig verstörte Museen. Es geht auf beiden Seiten um Hardliner, Macht, Geld, Profilneurosen und Nationalismen. Die deutsche Seite, bis dato oft wenig sensibel, täte jedenfalls gut daran, den eigenen, immer noch virulenten Diskurs des Opfers, Verlierers und Leidtragenden zu korrigieren und das immer noch präsente, im Gedächtnis des russischen Volkes tief eingegrabene kollektive Trauma des deutschen Überfalls und Vernichtungskriegs zu berücksichtigen.

Anliegen der "Kunstpilgerin" Holm ist es, dass jenseits von Gesetz und Kompensation endlich von beiden Seiten wieder über die Kunst selbst gesprochen wird und dass sich vielleicht über deren heilende Kraft eine zukünftige Verständigung herstellt.

EGBERT HÖRMANN

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