Wiedereröffnung des Teatro Colón: Saal des Volkes

Daniel Barenboim soll mit seiner Berliner Staatskapelle das renovierte Teatro Colón in Buenos Aires wieder eröffnen. Das berühmte Opernhaus ist aber noch immer eine Baustelle.

Weltberühmt für seine Akustik: das Teatro Colón in Buenos Aires. Bild: ap

Der Luna Park gehört nicht zu den Sehenswürdigkeiten von Buenos Aires. Schon der Name ist irreführend. Was hier so heißt, ist nicht, wie sonst in aller Welt, ein Rummelplatz, sondern ein Gebäude, das einen ganzen Häuserblock einnimmt und bis zu 10.000 Zuschauern Platz bietet. Es ist 1934 eröffnet worden und dient seither Massenveranstaltungen aller Art. Der Papst hat hier schon gesprochen, Basketballweltmeisterschaften sind hier ausgetragen worden, es wird geboxt und gerockt. Die rostrote Farbe der Außenhaut ist schmutzig und verblasst, riesige Plakatflächen verunstalten die Architektur so sehr, dass sie nur noch auf historischen Fotos zu erkennen ist: Ein Bauwerk in der Nachfolge des europäischen Expressionismus mit abgerundeten Ecken und einem umlaufenden, fensterlosen Frontband, über dem sehr elegant ein zeltartiges Dach schwebt. Im Innern gibt es außer Stuhlreihen, Bühne, Lautsprechern, Scheinwerfern und knall bunt leuchtenden Werbetafeln nichts zu sehen. Coca-Cola scheint sie allesamt und auf Dauer gemietet zu haben.

Noch vor drei Tagen waren die Hardrocker von Megadeth hier, an diesem Abend Anfang Juni kommen Daniel Barenboim und die Staatskapelle Berlin. Ein wirklich begabter Fotograf hat es fertig gebracht, das Gesicht dieses inzwischen 66 Jahre alten Mannes so ins Bild zu setzen, dass es einem etwas gereiften, aber durchaus noch immer verführerischen Schlagersänger gehören könnte. Eine leuchtende Stirn vor schwarzem Grund, lächelnder Mund und dunkle, ebenfalls lächelnde Augen: So blickt er nun von den Plakaten herab, als passe auch er in den Luna Park von Buenos Aires. Warum nicht? Dieser Saal ist ein Saal des Volkes, und Daniel Barenboim ist ein Sohn dieser Stadt. Seine Eltern waren russische Juden, gaben beide Klavierunterricht, und er selbst war ein Wunderkind. Mit sieben Jahren gab er sein erstes öffentliches Konzert. Jetzt ist er wieder einmal nach Hause zurückkehrt aus der weiten Welt des internationalen Musiklebens, in dem er einer der ganz Großen geworden ist. Auf dem Plakat genügt sein Name neben seinem Kopf, darunter der Hinweis auf die Staatskapelle, und am Rand die Logos der Veranstalter, die Stadt Buenos Aires, das Mozarteum Argentino und BMW.

Ausverkauft ist das Konzert wohl nicht. Etliche der Sitzreihen, die an allen vier Seiten des lang gezogenen Rechtecks bis an die Decke reichen, sind leer. Aber vielleicht sind sie gar nicht erst in Verkauf gegangen, weil es einfach unmöglich ist, in diesen Ecken irgend etwas von Daniel Barenboims Kunst zu hören. Es ist auch auf den besseren Plätzen nicht gut möglich, denn die Dimensionen dieses Raumes sind so, dass selbst die etwa 130 Mitglieder der Staatskapelle elektrische Verstärkung brauchen. So klingen sie denn auch. Für Megadeth mögen die Lautsprecher-Batterien, die links und rechts der Bühne von der Decke hängen, richtig sein, für Wagner und Mahler unter Daniel Barenboims Leitung sind sie es nicht.

Auch der Vertreter des BMW-Konzerns, dort zuständig für das Kulturprogramm, blickt ein wenig unglücklich auf die Popcorn- und Cola-Verkäufer, die vor dem Konzert durch die Reihen gehen. So hatte er sich den Imagetransfer wohl nicht vorgestellt - und geplant war eigentlich alles ganz anders. BMW hat mit rund 70.000 Euro eine Konzertreise der Staatskapelle gefördert, die nach Konzerten in São Paulo mit der festlichen Wiedereröffnung des Teatro Colón von Buenos Aires enden sollte. Aber dieses fabelhafte Opernhaus, in dem auch schon Richard Strauss seine Werke dirigiert hat, ist immer noch eine Baustelle. Trotzdem hielt BMW den Vertrag ein, die Gastspiele fanden statt, der Maestro bekam einen Wagen der 7er-Klasse samt Chauffeur gestellt, und zum nun nicht mehr ganz so glanzvollen Finale sind sogar ein halbes Duzend Journalisten aus Deutschland eingeladen. Wir flogen Businessclass und logieren im besten Hotel, aber nun sitzen wir da mit Jetlag, im Kopf die Eindrücke einer überaus informativen, perfekt organisierten Stadtbesichtigung, und sind im falschen Saal gelandet, im ordinären Luna Park statt im Teatro Colón - das nun wirklich die größte Sehenswürdigkeit dieser Stadt ist.

Aber für Daniel Barenboim gibt es keinen falschen Saal. Nur falsche Leute. Seine Staatskapelle spielt Wagner. Die Ouvertüre zu den Meistersingern ist kein Problem, sie macht unter jedem Dirigenten genügend Lärm. Schwieriger sind Vorspiel und Liebestod von Tristan und Isolde, aber auch sie gelingen gut. Nach der Pause Mahlers Fünfte, danach ist der Saal ein Tollhaus. Stehender Applaus, glücklich und begeistert, das Fernsehen hat alles live übertragen, sie waren dabei bei diesem Fest und hören überhaupt nicht mehr auf zu klatschen.

Das kann nicht alles gewesen sein - Barenboim tritt noch einmal ans Pult, wartet, bis es ruhiger wird, und beginnt zu sprechen. Seine Sätze sind so klar und einfach, dass mein bisschen Spanisch dafür ausreicht. Leider sei es ein trauriger Tag. Denn heute werde das Teatro Colón 100 Jahre alt, aber Politiker hätten seine Renovierung infrage gestellt. Barenboims Stimme wird lauter, trotzdem gelingt ihm ein kleines Wortspiel: "Die Verantwortlichen und die Unverantwortlichen" müssten jetzt zusammenstehen, damit dieses "Symbol der argentinischen Kultur" erhalten bleibe. Zurufe unterbrechen ihn: "In diesem Staat geht alles kaputt!", aber Barenboim widerspricht, zitiert aus der argentinischen Nationalhymne eine Zeile, wonach "unsere Lorbeeren ewig währen mögen". Darum eben gehe es, denn ewig währten Lorbeeren nur dann, wenn wir alle uns immer wieder neu und mit aller Kraft darum bemühten.

"Wir alle" sind jetzt nichts Geringeres als das souveräne Volk des heute einigermaßen demokratischen Staates Argentinien. Barenboim gibt dem Orchester den Einsatz für ein ziemlich kompliziertes Arrangement der Nationalhymne für Symphonieorchester und Chor. Überaus sicher in der Intonation stimmen viele tausend Stimmen an richtigen Stellen mit ein. Barenboim führt auch sie mit dem Taktstock durch dieses Stück Gebrauchsmusik, das hier womöglich eine seiner glänzendsten Aufführungen erlebt. Meine Nachbarin hat Tränen in den Augen.

Am anderen Tag empfängt uns die leitende Architektin des zurzeit ruhenden Umbaus des Teatro Colón. Gleich zwei Ingenieure nehmen sich Zeit, uns zu erklären, dass die Akustik dieses Saales die beste der ganzen Welt ist, wenn es um die Aufführung von Opern geht. Aber auch die elegante Mischung aus Elementen der Antike und der Renaissance des Prunkstücks an der Zentralachse der Stadt ist ohne jeden Zweifel erhaltenswert.

Grund genug also, dafür die Nationalhymne anzustimmen. Im Keller, in dem bereits ein Museum und Räume für experimentelle Aufführungen hergerichtet sind, empfängt uns der Maestro. Was wir denn wissen möchten, fragt er, aber ich bilde mir nicht ein, nach zwei Tagen sinnvolle Fragen zur argentinischen Kulturpolitik stellen zu können. Ich muss es auch nicht, Barenboim ist sich ziemlich sicher, dass er in zwei Jahren hier auftreten kann. Das Problem sei nur politisch, daher nicht annähernd so schwierig wie das menschliche Problem des Zusammenlebens von Juden und Arabern in Israel.

Barenboims Ansichten dazu sind bekannt. Er fordert von der israelischen Mehrheit, dass sie lernt, mit der arabischen Minderheit zusammenzuleben. Mit der Staatskapelle hat er Wagner auch in Israel gespielt, aber auf die Idee, die widrigen Umstände des Luna Park mit dem persönlichen Mut zu vergleichen, den dieses politische Wagnis erfordert hat, wäre ich von mir aus nie gekommen. Nein, er möchte nicht immer im Luna Park spielen, sagt er dann, aber es sei doch auch sehr schön, so vielen Menschen etwas zu geben. Er halte das für seine Pflicht. Ein Kollege fragt dann trotzdem, ob er "Parallelen" sehe zwischen dieser Baustelle hier und der kommenden Baustelle der Staatsoper in Berlin. Barenboim blickt verdutzt und sagt nach einer Weile: "Ich hoffe, nicht."

Ich auch nicht und sitze noch am selben Abend wieder im Konzert. Die Berliner Staatsoper hat uns auf ihre Kosten dazu eingeladen. Der Saal heißt Teatro Coliseo, und die Akustik ist wieder lausig. Aber dann spielt Barenboim mit der Staatskapelle die Variationen für Orchester Opus 31 von Arnold Schönberg. Der Luna Park, die politische Demonstration mit Nationalhymne, das Teatro Colón, BMW, die Geschichte dieser Stadt, deren gebildete Schichten offenbar schon immer geradezu sehnsüchtig nach Europa blickten, als sei dort ihre imaginäre Heimat: Alles verliert sein Gewicht, verschwindet nicht, aber ordnet sich neu um ein Kraftzentrum herum, das keineswegs imaginär, sondern von ganz und gar sinnlicher, unmittelbar erfahrbarer Schönheit ist. Neu ist dieses Meisterwerk gewiss nicht, Legionen von Musikwissenschaftlern haben es analysiert, Barenboim ganz sicher auch, aber unter seiner Leitung klingt alles ganz selbstverständlich, nichts ist angestrengt, es geht um kein Gefühl, keine Stimmung, keine Botschaft. Es ist reine, unendlich reiche Musik, und ich möchte nach dem letzten Ton nie mehr etwas anderes hören.

Aber es geht mit Bruckners Neunter weiter. Gewaltig also, und Barenboim dirigiert, als gehe es darum, Felsbrocken und Baumstämme aufeinanderzutürmen. Doch im Hintergrund klingt Schönberg mit. Denn auch Bruckner hat Anteil an dieser Kunst, etwa so wie bei Plato die Dinge teilhaben an ihrer Idee. Der schlechte Saal stört nun schon, weil Bruckner sich nur schwer schnaufend mit riesigen Klangmassen daran heranarbeiten konnte. Das Orchester spielt sehr gut, dennoch schiebt sich immer wieder ein anderes Bild dazwischen: Barenboim sitzt an einem Tisch in der Ecke des Tango-Lokals, in das uns die Reiseleitung gleich am ersten Abend mitgenommen hat. Er geht dort immer hin, wenn er in Buenos Aires ist, sagt er. Er umarmt die Musiker, setzt sich hin und singt laut mit, wenn ihm eine Stelle besonders gut gefällt. Das ist kein Star, der sich von seinen Fans anhimmeln lässt. Nur ein Musiker, der den Tango liebt. Wahrscheinlich hört er auch darin seinen Schönberg, den er so entspannt dirigiert, wie er hier am Tisch sitzt.

Hier, in der Idee der Musik, ist er wirklich zu Hause, und wenn es so ist, kann ich mir diesen rastlosen, mit politischen Botschaften, Sponsoren und ganzen Orchestern um die Welt reisenden Mann nur als glücklichen Menschen vorstellen.

Einmal zahlen
.

Fehler auf taz.de entdeckt?

Wir freuen uns über eine Mail an fehlerhinweis@taz.de!

Inhaltliches Feedback?

Gerne als Leser*innenkommentar unter dem Text auf taz.de oder über das Kontaktformular.

Bitte registrieren Sie sich und halten Sie sich an unsere Netiquette.

Haben Sie Probleme beim Kommentieren oder Registrieren?

Dann mailen Sie uns bitte an kommune@taz.de.