Murat Kurnaz Superstar

Erstmals in Deutschland: Der ehemalige Guantánamo-Häftling Murat Kurnaz las in Bremen aus seinem vor über einem Jahr erschienenen Buch „Fünf Jahre meines Lebens“

Hierzulande gelesen hatte Murat Kurnaz seine Geschichte noch nie. Natürlich schon oft erzählt, zuallererst in seinem Buch „Fünf Jahre meines Lebens. Ein Bericht aus Guantanamo“, das in schon mehr als ein Dutzend Sprachen übersetzt ist. Kurnaz war damit unter anderem in England, Irland und Frankreich zu Gast, ja, selbst in New York gab es mittlerweile schon eine Lesung – wenn auch freilich ohne den Autor selbst: Er darf nach wie vor nicht in die USA einreisen.

Am Montag war es dann so weit, erstmals – nicht allein in seiner Heimatstadt Bremen, sondern überhaupt in Deutschland. Obwohl das bei Rowohlt verlegte Buch bereits im April vergangenen Jahres erschienen ist. Doch der Verlag hat in Sachen Kurnaz bislang „überhaupt keine Lesung“ auf der Welt organisiert – angesichts der laufenden politischen und juristischen Auseinandersetzung, so Rowohlt, und um den 26-Jährigen „aus der Schusslinie“ zu nehmen.

Knapp 200 Menschen waren in die Bremer Stadtbibliothek gekommen, und es hätten noch viel mehr sein können. Wenn sie noch in den überfüllten Saal gedurft hätten. In New York waren es seinerzeit 300, die Tickets im Nu ausverkauft. Doch der Fernsehsender CBS brachte hernach zur besten Sendezeit eine viertelstündige Zusammenfassung – Einschaltquote: gut 20 Millionen Menschen. In Deutschland indes, findet der stellvertretende Bibliotheksdirektor, sei die Resonanz auf das Buch „eher mäßig“ gewesen.

Und doch „verschiebt sich derzeit einiges“, sagt Kurnaz’ Rechtsanwalt Bernhard Docke – und zwar gerade auch durch dieses Buch, das Einzige seiner Art. Docke setzt viel Hoffnung in die neu zu wählende US-Regierung – darauf, dass sie nicht nur dieses Lager auf Kuba schließt, sondern dem ganzen „System Guantánamo“ ein Ende setzt. Gerade erst hat die Bush-Regierung vor dem höchsten US-Gericht, dem Supreme Court, die dritte Niederlage in Sachen Guantánamo bezogen: „eine einzige Ohrfeige“, wie Docke sagt. Bislang wurden hernach die Gesetze immer wieder geändert. Doch jetzt, sagt der Anwalt, sei ein Systemwechsel „nicht mehr aufzuhalten“.

In Bremen hat manch ZuhörerIn das Buch bereits gelesen, doch es geht gar nicht so sehr darum, die Geschichte an sich zu hören. Sondern sie von ihm zu hören, oder wenigstens aus dem Mund von Helmut Kuhn, dem Ghostwriter. Der liest zunächst die „Kettenszene“, wie auch Kurnaz sie nennt, als er kurz nach seiner Verhaftung im afghanischen US-Militärlager in Kandahar erstmals gefoltert wird. Über fünf Tage hinweg, an Eisenketten aufgeknüpft, stets in der Luft hängend, über weite Strecken ohnmächtig.

Eine eindringliche Schilderung, aber ohne Wut niedergeschrieben, sachlich, fast distanziert. Im Saal herrscht Betroffenheit, Schweigen. „Ich wusste nicht, ob ich das überhaupt überlebe“, sagt Kurnaz dann. In demselben nüchternen Ton, in dem auch das Buch verfasst ist. Nein, das sei kein Kalkül, sagt Kuhn, kein Schutz. „So ist Murat.“ Ob ihn das Buch verändert hat? Nein, antwortet er zunächst. Oder doch – weil er jetzt wisse, was Menschen anderen Menschen antun könnten. Und weil er, von jetzt an, „immer“ gegen Folter „kämpfen“ werde. Sein Tonfall ist nicht kämpferisch. „So ist Murat.“ JAN ZIER