Ohne plastischen Gott

Schriften zu Zeitschriften: Das „marbacher magazin“ zeigt, wie stark sich Stefan George am Plastischen orientierte. Eine Ausstellung streichelt dazu seine hässlichen Häupter

„Was hat St. G. mit Marbach zu tun!“ Gemeint sind hier der Dichter Stefan George (1868–1933) und das Literaturmuseum in jenem schwäbischen Geburtsort Friedrich Schillers; die rhetorische Frage stellte 1956 der George-Jünger Walter Greischel. Es ging um eine spezielle Hinterlassenschaft des George-Kreises: die Plastiken, die der Bildhauer-Autodidakt Ludwig Thormaelen vom Meister und seinen Jüngern angefertigt hatte. Diese nach Marbach zu transferieren, hätte immerhin einen Vorteil: „Dort wäre wenigstens wohl nächtliche Bewachung gegen Einbruch zu erreichen – zur Sicherung gegen Metalldiebe.“

Heute hat Stefan George sehr viel mit Marbach zu tun. Ulrich Raulff, der Direktor des Deutschen Literaturarchivs, ist bekennender „Linksgeorgianer“, wie er sich in Anspielung auf die in Rechts- und Linkshegelianer zerfallenden Hegel-Anhänger des 19. Jahrhunderts nennt. Als solcher bewacht er Georges Erbe gegen ideellen Einbruch; wobei allerdings die schriftlichen Dokumente des Dichters im Stuttgarter George-Archiv lagern. Es bleiben – neben den Nachlässen einiger Jünger – Bilder und Büsten. Zweihundert Köpfe aus Gips, Holz, Stein und Bronze sind erhalten, aus der Hand von Thormaelen, Frank Mehnert und Alexander Zschokke.

Noch bis zum 31. August kann man im Marbacher Literaturmuseum der Moderne die von Raulff und Lutz Näfelt kuratierte Ausstellung „Das geheime Deutschland. Eine Ausgrabung“ sehen. Leben und Werk des Dichters wurden im vergangenen Jahr durch Thomas Karlaufs breit diskutierte Biografie in Erinnerung gerufen. Dabei wurde noch einmal Georges prägender Einfluss auf seine intellektuell äußerst produktiven Jünger sichtbar; Friedrich Gundolf, Max Kommerell, Ernst H. Kantorowicz schrieben bedeutende Bücher und starteten verheißungsvolle akademische Karrieren. Die Ausstellung präsentiert nun anhand zahlreicher Porträtskulpturen eine weitgehend unbekannte Facette des George-Kreises – und offenbart zugleich die im Gegensatz zur geistigen Produktion krasse Dürftigkeit des bildnerischen Schaffens.

Ein Augenmensch war der Dichter George zeitlebens. Davon zeugen die Gestaltung seiner Bücher sowie unzählige Fotografien, die zwischen Stilvermögen und Stilisierung changieren. Im ausstellungsbegleitenden, reich bebilderten Heft 121 des marbacher magazins zeigt Raulff, wie stark der künstlerische Blick Georges auf alles Plastische gerichtet war. „George war immer, und seit der ersten Zeile, die er schrieb, Plastiker gewesen.“ 1928 notierte Zschokke nach einer Lesung Georges: „Die Worte standen wie steinerne Blöcke im Raum.“ Und George selbst monierte an Nietzsche nur eines: „Er hat die wesentlichen großen dinge verstanden: nur hatte er den plastischen Gott nicht.“

Dieser fehlte offensichtlich auch den Schöpfern jener skurrilen Skulpturen. Verteidigen kann und will Raulff diese Produktion nicht. Sein Maßstab ist das legendäre Aufeinandertreffen von Dichtung und Skulptur bei Rilke und Rodin; an diesem gemessen scheitern George und seine Epigonen kläglich. Im Dritten Reich versuchten Thormaelen und Mehnert bildhauerisch zu reüssieren, was ihnen nicht so recht gelang. Mehnerts frühes Porträt des George-Jüngers und späteren 20.-Juli-Attentäters Claus Graf von Stauffenberg kann man heute in der Berliner Gedenkstätte im Bendlerblock sehen. Das „Pionier“-Standbild Mehnerts in Magdeburg hingegen, für das Stauffenberg ebenfalls Modell gestanden hatte, wurde 1942 von Unbekannten in die Elbe gestürzt. Und im April 1945 verbrannte ein Großteil der Porträtskulpturen Mehnerts und Thormaelens im Stollen eines Salzbergwerks.

In den in Marbach wieder ausgegrabenen Porträtbüsten vermag Ulrich Raulff ein Überbleibsel des 19. Jahrhunderts zu entdecken, auf deren Antlitz ein „Anflug des Surrealen“ erscheint. Stefan Georges großer Feind Rudolf Borchardt jedenfalls wäre froh über die Ausstellung gewesen: Nicht nur seine Meinung über das „Muckerhäuflein“ des George-Kreises hätte er bestätigt gefunden, auch seine Sicht auf das Profil des Meisters: „So offenbar außerhalb jeder Norm und Regel.“ ALEXANDER CAMMANN

marbacher magazin, Nr. 121: „Das geheime Deutschland. Eine Ausgrabung. Köpfe aus dem George-Kreis“, 120 S., 14 Euro, www.dla-marbach.de. Die Ausstellung ist bis 31. August zu sehen