Theater im Wandel: Die große Vereinfachung

Das deutsche Theater orientiert sich wieder weniger am Diskurs und mehr an einer Resakralisierung von Kunst und Werk. Das Theater lernt von Film und Pop.

Michael Thalheimers Inszenierung "Die Ratten" am Deutschen Theater in Berlin. Bild: dpa

Großer Flash: Ein junger Schauspieler entdeckt auf den Proben Goethe. Er lernt, dass ein alter Text mit der Zeit andere Texte zündet. Er sieht zum ersten Mal einen Stoff explodieren. Und ahnt, dass man das so Entzündete nie ganz kühlen kann. Oh, süße Entgrenzung. Ozeanisch gestimmt geht der Schauspieler in die nächste Produktion. Ein neuer Regisseur, wieder Goethe. Lesen, lesen, lesen. Doch gemach, der neue Regisseur ist genervt: "Jetzt hör mal auf mit dieser scheiß Sekundärliteratur." Es ist ein Regisseur, den man der Neuen Ernsthaftigkeit zuschlägt. Sein Ernst kennt keine Quellen, keine Kommentare. Es steht ja alles schon im Stück.

Das ist bloß eine anonyme Anekdote aus der letzten Spielzeit. Sie illustriert einen Trend über einzelne Regiestile und Generationen hinweg. Einen Trend zur Resakralisierung der Kunst. Nicht nur im Theater, aber da prominent. Denn die Reaktion des Regisseurs auf den Schauspieler ist im Kern religiös: Im Text sei bereits "alles da", heißt, dass die Botschaft sich von selbst offenbart. Auf die Bibel oder auf den Koran bezogen wäre das eine fundamentalistische Reaktion, weil sie eine Lektüre ohne fortschreitende Exegese einfordert. Eine Lektüre ohne Deutung. Ohne Gespräche.

Natürlich finden auf fast jeder Probe Gespräche statt. Aber oft nur bis zum Zeitpunkt der Premiere. Danach ist es ja Kunst. Heilige Kunst. Dass darin die Angst vor der Profanisierung wohnt, ist der einfache Schluss daraus. Nichts habe ich bei meinen Moderationen von Publikumsgesprächen, die meisten davon bei den zwei letzten Ausgaben des Berliner Theatertreffens, öfter gehört als diesen einen Satz: "Es steht ja alles da." Der scheidende Intendant des Deutschen Theaters in Berlin, Bernd Wilms, riet im Vorfeld gleich ab, die Kunst auf dem Podium genauer zu bereden. Das "Gequatsche immer, was wir hier tun, warum und all das".

Viele Regisseure fühlen sich rasch in ihrer Würde angegriffen, wenn man es wagt, ihre Arbeit zu deuten. Dimiter Gotscheff blättert in Büchern nach dem perfekten Heiner-Müller-Zitat, Jürgen Gosch und sein Bühnenbildner Johannes Schütz sagen oft gar nichts und kochen, angewidert vom profanen Fragefrevel, vor sich hin. Und Michael Thalheimer vermutet hinter Deutungsangeboten stets den Phantomverriss.

Klar gibt es Gegenbeispiele, etwa Jan Bosse oder Thomas Ostermeier. In der Regel aber spricht man mit Vorliebe über religiöse Erfahrungen. Über überwältigende Emotionen, unglaubliche Ensembleleistungen und die schöne Stimmung auf den Proben. Gelogen ist das bestimmt nicht. Aber zuweilen forciert wie die Andacht einer angeschickerten Bibelgruppe.

Die endlos rezyklierte Debatte über Regietheater und Texttreue scheint ihre Spuren auch bei jenen hinterlassen zu haben, die damit gemeint waren. Erleuchtete Worte: "Was fragen Sie, Sie haben es ja eben gesehen" oder "warum sollen wir jetzt reden, wo wir doch gerade gespielt haben?" Man geht in weiten Teilen des deutschen Theaters von einer Kunst aus, die sich rasch und selbst erklärt. Man glaubt erst an die Evidenz der Texte, dann an die Durchschaubarkeit der Inszenierungen. Man glaubt an Erscheinungen, die zu befragen in der Tat gottlos wäre.

Soll man dahinter gleich einen gesellschaftlichen Trend zur Restauration und zum Neobiedermeier vermuten, wie ihn Kathrin Röggla in ihrem Stück "Publikumsberatung" beschreibt? Man müsste dann Worte wie Backlash und Fünfzigerjahre verwenden. Denn bevor der Betrieb in den Sechzigern das Dokumentarische, die Geschichtsdiskussion und das viele Gequatsche entdeckt hatte, wurde das Theater in den Fünfzigern als Hochkultur noch nicht in Frage gestellt. Man hatte anderes zu tun. Zum Beispiel die Erfindung der Bundesrepublik und des Wirtschaftswunders.

Doch was bezeugt der Rückgriff auf die Fünfzigerjahre, außer den abstrakten Befund der Restauration selbst? Einen Wertekonservatismus vielleicht, der in der Kunst wieder etwas mehr Stabilität und etwas weniger Verunsicherung sucht. Und Stabilität ist beim Glauben besser aufgehoben als beim Fragen. Doch auch dieser Geschichtstunnel verdunkelt mehr als er erhellt. Wo das Reden über den Text verschwindet, lohnt ein Blick auf die Bilder erst recht. Denn bei den Bühnenbildern wird die Differenz zu den Fünfzigern wieder deutlich. Heute sehen wir viele Einheitsräume, die sich rasch offenbaren. Große Zeichen, knallende Metaphern.

Für Michael Thalheimers Inszenierung von Hauptmanns "Die Ratten" zimmerte Olaf Altmann eine Holzwand, in deren Mitte ein schmaler Schlitz eine Spielfläche freigibt. Im Deutschen Theater in Berlin ist das Spiel nur gebückt möglich, jede Figur von Anfang an gebrochen von den Verhältnissen. Oder Stephan Kimmigs Schiller mit "Maria Stuart" im Thalia Theater Hamburg: Katja Haß fesselt die Schottenkönigin mit Kabelbindern an eine Art gynäkologischen Stuhl, der Verhörraum bleibt von vielen Seiten einsehbar. Schiller, ein Terrorspiel einer zeitgenössischen Nation. Und während der Bühnenversion von Einar Schleefs "Gertrud", von Armin Petras in Frankfurt inszeniert, droht die riesige Holzschräge ständig auf die vier Schauspielerinnen zu fallen: die deutsche Geschichte des letzten Jahrhunderts in einem Bild.

Das sind alles Räume, die einlösen, was Frank Castorf zu seinen besten Zeiten mehr als Kritik am Betrieb denn als Programm für seine Berliner Volksbühne gebrüllt hatte: Kraft und Klarheit. Es sind Begriffe, die im Theater nicht Kontemplation erlauben, sondern den schweifenden Zuschauerblick mit strengen Wegweisern zum Ziel zwingen. Wie im Film oder Fernsehen, wo aber genau jener Kameraschwenk mittlerweile verpönt ist, der den Kopf des Zuschauers gewaltsam herumreißt. Die Klarheit solcher Bühnen und die Weigerung des dialogischen Widerstreits schaffen etwas, was sich in keiner Weise nur auf das Theater beschränkt: schnelle Wiedererkennung. Es geht am Ende wohl um Geschwindigkeit.

Schauen wir doch mal hin zum Film. Die Oscar-Akademie in Hollywood ehrt oft Freaks in den Hauptrollen. Figuren, die die Tradition des Method Acting weiterführen - allerdings zunehmend in der Farce. Daniel Day Lewis schäumt und zetert als Ölmagnat durch "There Will Be Blood". Und Philip Seymour Hoffman spreizt den kleinen Finger und spricht mit Fistelstimme, um noch dem letzten mitzuteilen, dass Truman Capote schwul war. Diese Schauspieler brennen den Figuren ihr Zeichen in wenigen Einstellungen auf die Haut. Die Optimierung dieses auf Geschwindigkeit gerichteten Effekts ist bemerkenswert. Etwas anderes als Schauspieltechnik kann man dann aber kaum mehr diskutieren.

In seinem berühmten Kunstwerk-Aufsatz hatte Walter Benjamin noch mit Verwunderung die Tricks notiert, mit denen man einem Darsteller einen glaubwürdigen Schrecken ins Gesicht zauberte: indem man "ohne sein Vorwissen in seinem Rücken einen Schuss" abgefeuert hat zum Beispiel. "Das Erschrecken des Darstellers in diesem Augenblick kann aufgenommen und in den Film montiert werden." Nichts zeige drastischer als dies, so Benjamin, dass "die Kunst aus dem Reich des ,schönen Scheins' entwichen" sei. Der schöne Schein, möchte man ihn denn von der deutschen Klassik her begreifen, das ist der Triumph des Spiels über die Technik, die Autonomie der Kunst vor den Gesetzen der Realität. Method Acting feiert dagegen einzig die Kraft des Machbaren. Der Star-Virtuose verdient seinen Ruhm mit der Reproduktion von erkennbaren Klischees.

Schnell auf den Punkt zu kommen, das ist eigentlich das Reich des Popsongs. Die Welt in drei Minuten. Doch mainstreamtauglicher Pop ist nur das Material für eine komplexe Praxis. Tanzen, reden, Radio hören, Videos schauen, kleiden. Es gibt viel mehr Reaktionsmöglichkeiten auf Pop als auf Theater. Doch jetzt, wenn der digitalen Musikdatei das Bild abhanden kommt, die Musiksammlungen eines jeden exponentiell wachsen und sich im Internet die Hörzeiten für den einzelnen Song folglich verkürzen, wird der Erkennungsdruck auf einen Hit ähnlich groß wie zu Zeiten der Single in den Fünfzigerjahren.

Heutige Hitproduktionen können sich in den ersten 20 Sekunden keine Dynamik mehr leisten, Pegel und Dichte müssen von Anfang an hoch sein. Mehr Zeit für den Matchentscheid ist nicht. Selbst hier kann man, wie im Theater, von einer Wende hin zum Einfachen sprechen. Zum Schnellen. Der neue Pop im Theater kommt nicht von verspielten, zitierfreudigen und bilderreichen Regisseuren wie Stefan Pucher, die man gern als Popregisseure verschreit. Der neue Pop ist diese pathetische Ernsthaftigkeit, die auf jeden Umweg verzichtet und schnell auf zentrale Botschaften hinsteuert.

Der Theoretiker der Beschleunigung, Paul Virilio, ist aus den Programmheften der Theater wieder verschwunden. Die Geschwindigkeit kümmert das wenig, sie nimmt munter zu. Vor allen Dingen in Subventionsdebatten beruft man sich auf die Rolle des Theaters als Kontemplationsraum, als letzte Stätten der Langsamkeit und der Ruhe in den Innenstädten. Gleichzeitig unterwirft man die Produkte unter steigendem Spardruck oft gnadenlosen Vereinfachungen. Das soll Publikumsnähe schaffen. Schafft aber nur neue Kathedralen.

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