Comic zur Revolution in Nicaragua: Als die Sandinisten noch recht hatten

Eine spannende und leicht schwule Episode aus dem Bürgerkriegsalltag der 70er-Jahre in Mittelamerika: "Muchacho" vom französischen Comic-Autor Emmanuel Lepage.

Erstes Bild aus "Muchacho". Lebensnah und unverkrampft spricht der Comic von den Höhen und Tiefen der Revolution Bild: Ausriss: Lepag

Nicaragua, November 1976. Ein Überlandbus wird auf morastiger Fahrbahn im Dschungel Nicaraguas gestoppt. Die Passagiere - Kinder, Junge, Alte - stehen aufgereiht vor der Seite des gelben Fahrzeugs. Gewehrläufe sind auf sie gerichtet. Nationalgardisten von Diktator Anastasio Somoza sind auf der Suche nach Aufständischen. Die Szene beobachten aus dem Hintergrund ein jüngerer und ein älterer Padre. In den Farben des Dschungels, gelb und grün gemalt, bildet diese den Auftakt von Emmanuels Lepages gerade erschienenem Comic "Muchacho".

Und die Szene enthält schon viel, was für Repression und Polarisierung im Nicaragua jener Jahre kennzeichnend war. Die Gardisten finden keine Waffen oder Propagandaschriften, und so lässt Comic-Autor Lepage den befehlshabenden Offizier, Comandante Vargas, nach Rauchern suchen. Richtig, Raucher! Der Comicgardist schnüffelt an den Nasen der Passagiere, dann schlägt er eine junge Frau mitten ins Gesicht. Sie roch nach Nikotin und wollte nicht zugeben, dass sie raucht. Der Schlag streckt sie nieder, und der Repressor fingert bei ihr ein rotes Feuerzeug aus der Hose. Sie wird festgenommen. Eine übertriebene Darstellung?

Wohl eher nicht. Somoza hatte den Kampf in Nicaragua wegen äußerst willkürlicher Gewaltausübung und unstillbarer Raffgier verloren. Er wollte mit der übrigen Bourgeoisie nicht teilen, und so gehörte seinem Clan vom Luxushotel bis zur Zündholzfabrik (fast) alles. Doch wer das Teilen vergisst, wird am Ende sogar von der eigenen Klasse gehasst. Vom Volk sowieso. Sandinistische Rebellen benutzen in Lepages Comic keine Streichhölzer, sondern Feuerzeuge. Deren Produktion war nicht in der Hand des Somoza-Clans.

Nicaragua 1976 also. Lepage hat die Ausgangssituation szenisch gut getroffen. Die junge Frau wird unter Fußtritten abgeführt. Eine wütende Akteurin: "Muerte a Tachito" (Tod dem Diktator "Tachito" Somoza) schreit sie, obwohl wehrlos und verschnürt.

"Muchacho" ist im besten französischen Comicstil dramatisiert und gemalt. Dabei geben die aufwendig colorierten Tuschezeichnungen ein flottes Tempo vor. Die Geschichte ist so spannend, dass man, hat man einmal angefangen, das Buch nicht mehr aus der Hand legen mag.

Der jüngere Padre aus der Eingansszene, Gabriel, befindet sich auf Landverschickung. Er entstammt einer reichen Herrschaftsfamilie aus der Hauptsstadt Managua und soll im Tropendorf San Juan fromme Bilder an die Kirchenwand bringen. Doch in San Juan trifft er auf einen mit den Sandinisten sympathisierenden Pfarrer und eine rebellische Jugend.

Gabriel, das vergeistlichte Bürschchen aus der Oberschicht, findet sich rasch vom populären Leben angezogen. Er handelt nicht zielgerichtet, eher instinktiv und mit der emotionalen Unbekümmertheit eines hoffnungsvollen, jugendlichen Menschen. Die sandinistische Revolution, die 1979 der Diktatur Somozas ein Ende setzen sollte, wurde tatsächlich in großen Teilen von Teenagern beiderlei Geschlechts getragen. Ihre Anführer waren zumeist unter dreißig. Daniel Ortega, der für das schließlich erfolgreiche undogmatische Bündnis- und Aufstandskonzept der Sandinisten eintrat, war bei der Übernahme Managuas mit 34 schon einer der Erfahrensten.

Das Leben auf dem Land im tropischen Nicaragua zeichnet Lepage in "Muchacho" den Leidenschaften zugewandt, ohne dass dies kitschig wirkt. Seine Malkunst ist dafür zu differenziert und über die reine Gegenständlichkeit hinaus abstrahierend - eine Dokufiktion, deren Bildfolge auch über längere Strecken ohne Stützkommentare aus der Schriftsprache die Spannung zu halten vermag.

In San Juan beobachtet der neugierige Padrito Gabriel vom Kirchturm aus die so attraktive wie reife Concepcion und den so jungen wie männlichen Diego bei der Liebe. Das ist Sex I und schön gezeichnet. Wenig später lernt der hübsche Gabriel den heroisch-nihilistischen Internationalisten Rubén kennen, und damit die Homosexualität und das Konzept von Sex II, welches im sandinistischen Untergrund ebenfalls als Underground gelebt werden wollte. Gesellschaftliche und individuelle Emanzipation waren, das legen Lepages unverkrampfte Bildfolgen nahe, im tropisch-nicaraguanischen Alltag ein ständig präsentes Thema, auch bei der Guerilla.

"Muchacho" zeigt: Die sandinistische Guerilla war einmal in vielem unorthodoxer und freier, als man dies heute annehmen mag, da der präsidiale Regierungs-Ortega in scheinheiliger Sittsamkeit mit der konservativen Konkurrenz im Dauerwettstreit liegt. Doch damals im Ausnahmezustand des Untergrunds, der unbedingten Unmittelbarkeit und der romantischen Idee eines radikalhumanistischen Existenzialismus war vieles zumindest noch ambivalent. Lepage macht dies zeichnerisch deutlich. Der jugendliche Elan wurde nicht (ausschließlich) in marxistisch verbrämten Flügelkämpfen begraben, und ein Herrschaftssöhnchen konnte sich von seiner Klassenherkunft befreien. Wer gerade noch das Leben im Kampf eingesetzt hat, wie Gabriel in Lepages Komik dies eher zufällig als heroisch tut, konnte nicht am nächsten Tag wegen seiner Herkunft im Basiscamp der Guerilla zum Verräter erklärt werden. Er konnte aber, wie Gabriel, das zeigt Lepages Erzählung, der Härte der Auseinandersetzung nicht gewachsen sein und schuldlos das Unglück anderer zu verantworten haben. Und trotzdem ein redlicher und liebenswerter Mensch bleiben.

In der Tendenz ist der Sandinismus in "Muchacho" sehr gut getroffen. Die sandinistische Bewegung des superarmen Nicaragua war sicherlich viel pragmatischer und demokratischer orientiert als etwa die Farc in Kolumbien. Praktizierter linker Antistalinismus. Die antiautoritäre Comicsprache Lepages ist ein gutes Mittel, dies deutlich zu machen. Nach den Sandinisten gab es nur noch einmal ein so großes Versprechen eines Aufstands auf emanzipatorischer Höhe der Zeit in Lateinamerika. Und zwar in Mexiko von den Zapatisten und das war in den 1990ern und blieb schon eher auf die symbolische Botschaft beschränkt.

Die sandinistische Revolution triumphierte am 19. Juli 1979. Lepage hat den Sieg des Kollektivs in einem Epilog zeichnerisch angehängt. Kein Happy End gibt es in "Muchacho" für die individuelle Seite. Rubéns und Gabriels Liebe verliert sich, lange bevor sich eine des Kampfes müde Bevölkerung anderen Politikformen zuwendete und den "Sandinisimus an der Macht" abgewählt hat. Danach war trotzdem nichts, wie es vorher einmal war.

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