Die Wohnzimmerfilmer

Kamerateams umringen den Tiger, Premierengäste fotografieren wie die Besengten, Legofiguren und Schnecken spielen EM: Der User-generierte Film „23 Tage“ feierte Premiere am Potsdamer Platz

VON DETLEF KUHLBRODT

Es war schwül an diesem Samstagnachmittag, fast wie damals, als Spanien gegen Italien im Halbfinale der Europameisterschaft gewann. Der Tag dämmerte so vor sich hin. Am Abend sollte der erste User-generierte Film über die EM am Potsdamer Platz Premiere haben. Das Internet-Film-Portal YouTube hatte aufgerufen, Kommentare über das Fußballturnier einzuschicken.

Der nicht, wie vielfach behauptet, aus Bad Segeberg, sondern aus dem schleswig-holsteinischen Dörfchen Nienwohld stammende Regisseur Detlev Buck („Wir können auch anders“, „Männerpension“, „Knallhart“) war als Produzent für die Geschichte gewonnen worden, hatte ungefähr 80 Stunden gesichtet, und seine Firma Silberlink hatte die Einsendungen dann zusammengeschnitten.

Das eigentliche Ereignis, also die Fußballspiele, durften in diesem Film nicht gezeigt worden. Bekanntlich hat die Fifa dafür die Rechte und verlangt allein schon Millionen, wenn man Fußballnationalspieler beim Absingen der jeweiligen Nationalhymne zeigen möchte. Das ist aber auch nicht weiter schlimm, man kennt ja die Bilder und die Reinszenierungen entscheidender Spielszenen – auf dem Tip-Kick-Feld, mit Legofiguren, mit Kindern oder mit Schnecken gegen Spaghetti (Frankreich – Italien) – gehören zu den Höhepunkten des mit 50 Minuten etwas kurz geratenen Films.

Das Postfußballloch

Schwül hing dieser Samstagnachmittag also über dem Potsdamer Platz, der irgendwie ganz anders aussah als noch vor paar Monaten bei der Berlinale. Der Tiger von Kreuzberg, einer der Stars des YouTube-Films, saß mit seinem Freund Murat in einem Café am Sony Center. Sein tagtägliches, im Biergarten des Moabiter Engelbrot-Theaters gedrehtes „Süper-EM-Stüdyo“ war einer der Höhepunkte der Europameisterschaft gewesen. Danach war er wie viele in ein emotionales Loch gefallen. Nach der EM hatten die beiden nur noch ein einziges Video ins Netz gestellt, und das auch nur, weil Tiger eine Wette bei KISS-FM verloren hatte und deshalb einen deutschen Schlager singen musste. „Haben sich zum Glück nicht so viele angeguckt …“

Kamerateams umringen den Tiger, der noch einmal zum tausendsten Mal erzählt, wie es zu seinem EM-Stüdyo kam. Die Übergänge zwischen professionellen und User-generierten Kameras sind fließend. Mag sein, dass der ZDF-Durchschnittszuschauer 60 ist; ist bestimmt auch so, dass viele der in „23 Tage“ verwandten Beiträge interessanter und lebendiger sind als vieles, was im Fernsehen läuft; der Unterschied besteht in dem Geld, dass die einen bekommen und die anderen nicht. Deshalb würden viele der kreativen YouTube-ler vermutlich lieber im langweiligen Fernsehen als im spannenden Internet arbeiten.

Im Keller des Sony Center fotografieren sich die Premieregäste wie die Besengten. Manche stimmen auch noch einmal das schöne Lied der White Stripes an.

Der Pressesprecher von YouTube begrüßt die lieben User und die 64 in dem Film vertretenen Autoren. Einer ist sogar aus Moskau gekommen: „Rock ’n’ Roll – das ist euer Abend!“

Du bist nicht allein

Der Film besteht aus zu schnell geschnittenen, meist humorigen Clipausschnitten. Die Geschichte von zwei Jungs, die mit ihren Mofas von Hamburg aus zum Endspiel nach Wien fahren und den Ausflug auf YouTube dokumentierten (man war dann bisschen enttäuscht, als man erfuhr, dass es sich um Filmhochschüler handelte) und Tiger’s EM Stüdyo sorgen für den roten Faden. Die Band Kaiserkind („Schlaand“) macht ab und zu Musik dazu. In einem ihrer Lieder heißt es „du bist nicht allein“. Das erinnert an den Song der ersten Big-Brother-Staffel, beschreibt aber auch die Erfahrung beim Public Viewing dieser EM, bei der die Umgebung, in der man guckte, nicht weniger wichtig war als die einzelnen Spiele.

Der Film kam mir zu kurz und zu schnell vor, als hätten die Produzenten große Angst davor gehabt, ihr Publikum zu langweilen. Er zeigt eher das Potenzial, das in YouTube (und einigen der Protagonisten) steckt, als dass er als eigenständiger Film überzeugen könnte. Der Anspruch nach einem kollektiven Tagebuchs (im Sinne des Altmeisters Jonas Mekas etwa, der seine Videos ja auch eine Weile auf YouTube veröffentlichte) wird nicht eingelöst. Dafür ist das Material atmosphärisch und tempomäßig zu ähnlich; vor allem bleibt das existenzielle Moment (beim Identitätsswitching etwa) ein irgendwie gearteter Alltag, der durch die EM bei so vielen ja tatsächlich in einen anderen Rhythmus geriet, draußen.

Hat aber trotzdem Spaß gemacht. Nach dem Film feierten 1303HD, 566211, binnichts, FredFucker82 und all die anderen Wohnzimmerfilmer miteinander, und Murat freute sich sehr, als ihm jemand erzählte, dass Tiger eben auch in den „Tagesthemen“ gewesen sei. Der Film „23 Tage“ läuft ab nächstem Donnerstag in den Kinos zum symbolischen Eintrittspreis von 2,30 Euro. Die Einnahmen gehen zu gleichen Teilen an den Verein Laut gegen Nazis und die Entwicklungshilfe-Initiative Streetfootballworld.