Leben mit offener Richtung

Kunst und Soziologie haben oft denselben Gegenstand: den Menschen. So in Wittenberge, wo man gemeinsam den Alltag in einer schrumpfenden Stadt untersucht

Aus dem ehemaligen Bahnhofsrestaurant in Wittenberge führen drei Türen. Über der rechten steht „Zentrum“, über der linken „Alle Richtungen“, über der mittleren hängt eine Uhr. Die Uhr steht. Um den Wirklichkeitsbezug der Schriftzüge ist es nicht besser bestellt: Ein „Zentrum“ ist Wittenberge schon lange nicht mehr, und dass es von hier in alle Richtungen geht, ist bestenfalls ein Traum der Jugend.

Gebaut wurde der Wittenberger Bahnhof 1845, zu einer Zeit, als man Bahnhofsrestaurants auch in Brandenburg noch mit der Grandeur von Ballsälen versah. Geschlossen wurde das Mitropa-Restaurant 1994. Damals lebten in Wittenberge 24.000 Menschen; 15 Jahre zuvor waren es noch 32.000 gewesen, heute sind es knapp 20.000. Das einst bedeutendste Nähmaschinenwerk Europas, das Zellstoffwerk und die Ölmühle wurden abgewickelt. Der Altersdurchschnitt liegt derzeit sieben Jahre über dem Bundesdurchschnitt, die Kaufkraft 25 Prozent darunter.

„Über Leben im Umbruch“ heißt ein breit angelegtes Forschungsprojekt, das über drei Jahre die Folgen dieser wie vergleichbarer europäischer Schrumpfungs- und Exklusionsprozesse untersuchen will. Im Fokus steht das „Sozialkapital“, also die Frage, wie Menschen mit derartigen Transformationen fertig werden. Das Bundesministerium für Bildung und Forschung hat im Rahmen der Ausschreibung „Geisteswissenschaften im Dialog“ 1,5 Millionen Euro zur Verfügung gestellt – und diesem Dialoganspruch ist es zu verdanken, dass neben fünf akademischen Instituten (darunter das Hamburger Institut für Sozialforschung sowie die Soziologie der Uni Kassel unter Heinz Bude) das Berliner Maxim Gorki Theater am Projekt beteiligt wurde.

Abwegig ist die Kooperation nicht, schließlich eint Kunst und Wissenschaft der Forschungsgegenstand Mensch. Was die Soziologie „Umbruch“ nennt, heißt im Theater „Krise“ und ist als solche seit der Antike im Drama präsent. Auch die jüngeren Entwicklungen von Site Specific Performances und neuem Dokumentartheater lassen sich leicht an die Soziologie andocken. Tatsächlich haben sich diese Formate, die die Recherche so wichtig wie die Probe nehmen, vor geraumer Zeit Strategien der Soziologie angeeignet.

Nun also will die andere Seite profitieren. „Ich habe diverse Dokumentarstücke gesehen und immer gedacht, wir können das besser“, sagt Andreas Willisch, Projektkoordinator des Forschungsverbunds, „aber bei dem, was rauskommt, gewinnt eindeutig das Theater.“ Das Theater nämlich hat am Ende ein Publikum.

So wurde am Wochenende im alten Mitropasaal in Wittenberge ein „Archiv der Gegenwart“ als Audioinstallation präsentiert. Eingerichtet von der agentur kriwomasow, die wie die Künstlergruppen plan b und ex defekt seit September über Wittenberge gearbeitet hat. Einmal monatlich tauschten sie sich mit den Wissenschaftlern aus, die vor Ort ein Projektbüro bezogen haben. Der Einfluss ist bei kriwomasow greifbar: Ihre Audiocollage ist ein Zusammenschnitt von 40 Stunden Interviewmaterial, die Wissenschaftler mit Bewohnern geführt hatten. Plan b wollten ihren „sprechenden Stadtplan“ am Wochenende gemeinsam mit den Wittenbergern entwickeln – diese aber interessierten sich für das Kunstprojekt im Stadtraum ebenso spärlich wie für die Veranstaltungen im Projektraum oder die öffentliche Konferenz im örtlichen Gymnasium. Obwohl just hier Wittenberge „als ein neues Modell gesellschaftlicher Entwicklungen in Europa“ diskutiert werden sollte.

Künstler und Wissenschaftler konnten von ihren verschiedenen Herangehensweisen profitieren, eine neue Öffentlichkeit konnte bislang nicht gewonnen werden. Die nämlich fürchtet, einmal mehr aufs Verliererimage festgelegt zu werden, wie die Berichterstattung der Lokalpresse belegt. Das hat mit dem Missverständnis zu tun, Theater nicht als Ort der Auseinandersetzung, sondern als Instrument des Stadtmarketings zu begreifen. „Wenn man das in Köln aufführt, ist allen klar, der Osten wird abgebaut“, zeigte sich der Bürgermeister beunruhigt.

Ab Herbst schreiben Juliane Kann, Thomas Freyer, Philipp Löhle und Fritz Kater Stücke im Rahmen des Forschungsprojekts. Gewinner oder Verlierer, Zentrum oder Peripherie – noch darf der Bürgermeister hoffen, denn tatsächlich ist nichts offener in alle Richtungen als die ungeschriebene Literatur. Das Leben sollte sich ein Beispiel nehmen. CHRISTIANE KÜHL