Pariser träumen in Berlin

UMZUG Pariser Künstler treibt es nach Berlin. Hier finden sie nicht nur jenen Hauch von Boheme und Freiheit, der ihnen in der französischen Hauptstadt fehlt, sondern den Erfolg noch dazu

■  Das Institut français hat in Berlin eine Ausstellung konzipiert, die sich den in Berlin lebenden jungen französischen Künstlern widmet. „Une valise à Berlin / Ein Koffer in Berlin“ ist noch bis 25. Januar zu sehen.

■  Ein ähnliches Ziel verfolgt der in Zusammenarbeit mit der französischen Botschaft initiierte Galerienaustausch „Berlin–Paris“, der zum zweiten Mal stattfindet. Vom 9. bis 18. Januar präsentieren sich 13 Pariser Galerien in den Räumen von Berliner Kollegen. Mehr Informationen unter: www.institut-francais.fr

VON SIMONE JUNG

„Paris hat den Bedeutungsverlust seiner Gegenwartskunst nie verwunden und auch nie so recht wahrhaben wollen. Paris ist todlangweilig“, frotzelt der französische Maler Damien Deroubaix, der heute in Berlin lebt und arbeitet. Der 37-Jährige, der in Lille aufwuchs und die Kunsthochschulen in Saint-Étienne und Karlsruhe besuchte, gilt mittlerweile als einer der aufregendsten französischen Künstler der Gegenwart.

Doch erst der Umzug von Paris nach Berlin machte den Künstler zu dem, was er heute ist. Ihm verdankt er nicht nur ein größeres Atelier und ein finanziell sorgenfreieres Leben, sondern auch seine Inspiration: „Du bist in Paris, es ist eng, es ist laut und schnell, du sitzt in der U-Bahn, und überall prallt Werbung auf dich ein. Berlin dagegen ist riesig und durch seine Weite unheimlich inspirierend. Meine Bilder sind dadurch tiefgründiger geworden. Sie sind vielschichtiger, perspektivischer.“

In seinen heute großformatigen Malereien verbindet der Franzose die unterschiedlichsten Welten. Darstellungen aus der Nazi-Vergangenheit treten neben Bildern aus der Trashkultur; aktuelle Newsflashs von globalen Kriegs- und Politschauplätzen neben Szenen aus Underground- oder Pornomagazinen. Der Kunstkritiker Thibaut de Ruyter betitelte den Maler gar als den deutschesten aller französischen Maler, weil ein Großteil seiner Motive den vertrauten Ikonen deutscher Kultur entstammen. Da ist der Punk, der ein Hakenkreuz auf seiner Unterhose mit Eingriff trägt, da wird Karl Marx auf den Status einer Konsumikone herabgestuft.

In Deroubaix’ Werken vereinigt sich die Architektur Berlins, die deutsche Geschichte und Kultur mit der Konsumwelt, die ihn in Paris so stark prägte. Wie der Maler dem Betrachter die Abgründe der Gesellschaft vergegenwärtigt, provoziert er und macht gleichzeitig nachdenklich. Und genau das macht Deroubaix als Künstler wichtig. Hier ist einer, der sich um die Welt sorgt, so, wie sie ist.

Trotz der düsteren, fast immer in schwarzen Farbtönen gehaltenen Bilder erscheint Deroubaix selbst als entspannt freundlicher Mensch. Deroubaix hat Berlin gutgetan. Erst kürzlich wurde er für den Prix Marcel Duchamp nominiert. Der Preis wurde in Paris von der Association pour la Diffusion Internationale de l’Art Française verliehen und gilt als die wichtigste Auszeichnung für französische Nachwuchskünstler. Gewonnen hat ihn jedoch ein anderer: Saadane Afif.

Auch er lebt wie Deroubaix und der Drittnominierte, Nicolas Moulin, in Berlin. Ist das alles nur Zufall? Oder findet die Pariser Kunstszene mittlerweile in Berlin statt? Die Frage wird noch brisanter, hält man sich die Kunstfelder vor Augen, aus denen die drei stammen: Der Gewinner Afif steht für Skulptur, Deroubaix für Malerei und Moulin für die konzeptionelle Kunst. Die Nominierungen symbolisieren, wie wichtig Berlin für Pariser Künstler aber auch für die Gegenwartskunst selbst geworden ist. Auch wenn es in einer globalisierten Kunstwelt kein Zentrum mehr gibt, die Kunstinteressierten via Easyjet zwischen London, New York, Basel, Paris oder Istanbul unterwegs sind und das traditionelle Kunstzentrum in viele kleine Zentren zerfällt, scheint es doch einen Kern für die Produktion von Kunst zu geben: Berlin.

Alles nur Zufall?

Kamen Afif, Deroubaix und Moulin erst vor fünf Jahren nach Berlin (die New Yorker entdeckten die Berliner Kunstszene bereits Anfang der 90er-Jahre), überschwemmt derzeit eine zweite Welle die Stadt. Heute sind es vor allem junge französische Künstler, die ihr Studium absolviert haben und in Berlin ihre Chance sehen. „Der Weg auf der künstlerischen Leiter führt nicht mehr über Paris, sondern direkt nach Berlin. Was Hollywood einst für die Schauspieler war, ist Berlin heute für die Künstler“, beschreibt Cédric Aurelle, Direktor des Institut français in Berlin die Faszination der Stadt. Er hat deshalb die Ausstellung „Une valise à Berlin / Ein Koffer in Berlin“ konzipiert.

Die Franzosen finden in Berlin das wieder, was in Paris längst der Vergangenheit angehört: die lebensweltliche Freiheit. Das bestätigt auch der Philosoph Boris Groys: „In Berlin entsteht heute so etwas wie eine internationale Boheme ähnlich jener im Paris der Zwanzigerjahre“, verkündete er in der letzten Ausgabe der Lettre International. In diesen Verhältnissen scheinen viele Künstler das zu schaffen, was ihnen in Paris unmöglich schien.

So auch Renaud Regnery, Maler und Assistent von Gregor Hildebrandt, der vor zwei Jahren mit seiner Sox-Box in Kreuzberg einen öffentlichen Kunstraum geschaffen hat. In diesem 300 x 225 x 60 Zentimeter großen Schaufenster wird in der belebten Oranienburger Straße zeitgenössische Kunst ausgestellt. Fanden hier zu Anfang noch primär die Werke befreundeter Franzosen wie die von Nicolas Moulin Platz, etablierte sich die Box zunehmend und zeigt heute Künstler aus aller Welt. Für Regnery hat die Box auch eine politische Dimension: „Dieser Kunstraum bietet Künstlern die Möglichkeit, ein bestimmtes Projekt in einem Rahmen zu experimentieren, der unabhängig vom Kunstmarkt oder etablierten Institutionen funktioniert. Das wäre so in Paris nie möglich gewesen. Paris ist elitär, ein geschlossener Raum. Ausprobieren kann man sich da nicht wirklich.“

Damit spricht Regnery ein weiteres Problem an, das viele Künstler mit der Pariser Kunstwelt haben: die interne Kommunikation. Während in Paris der Kunstbetrieb wie ein pyramidenähnliches Konstrukt funktioniert, den man Stufe für Stufe erklimmen muss, um einen Weg nach oben zu finden, sind in Berlin die sozialen Hierarchien schwächer. Etablierte Künstler reden mit jungen Künstlern, Galeristen mit Kuratoren, Kuratoren mit Künstlern. Was sich allabendlich auf den vielen Vernissagen und Ausstellungen in den über 600 Galerien tummelt, lässt ein offenes Netzwerk entstehen. In Zeiten der Krise ist dieses Netzwerk der Bonus, den Paris nicht hat und durch seine elitäre Geschlossenheit auch nicht haben kann. Es ist das soziale Kapital, die Szene, der Diskurs, die den Künstler in einer ökonomisch schwachen Stadt wie Berlin stark machen. Und so könnte Berlin nach Paris und New York zum neuen Kunstzentrum aufsteigen.

Kulturelle Idylle Berlin

Berlin ist Utopie. Zumindest, was das Künstlermilieu betrifft. Folgt man noch einmal Groys, der die Boheme als realisierte Utopie des angenehmen Lebens in Berlin verwirklicht sieht, welche aus Armut, Stagnation und staatlicher Subvention entstand, wird das wesentliche Kriterium für eine Boheme deutlich: Freizeit.

Da, wo Freizeit im Übermaß und Geld ein Mangel ist, gedeihen Ideen. Damit ist Berlin eine äußerst produktive Stadt, was die Kunst angeht

Freizeit zu haben führt in Berlin unweigerlich dazu, in Cafés zu sitzen, in Bars zu gehen oder das Nachtleben zu genießen. Dabei ist das angenehme Leben nach Groys das gute Leben, das nicht der Produktion und dem Erfolg geopfert werden sollte: „Das eben ist das Utopische, in der Utopie soll nichts produziert werden. Außer das angenehme Leben.“ Interessantes entstehe da eher nicht, so Groys, dazu bedürfe es Konkurrenz, Leiden und extremer Anstrengungen.

Ist die Kunst in Berlin folglich dazu verdammt, in Bedeutungslosigkeit und sinnentleerten Müll zu zerfallen? Entsteht in Paris die bessere Kunst?

In Paris muss man sich anstrengen und hart arbeiten, um als junger Künstler Erfolg zu haben, um überhaupt eine eigene Ausstellung auf die Beine zu stellen. So entstehen nicht zuletzt nach Groys’ Theorie Wertvolles und Bedeutsames. Damit wäre Qualität die Folge der elitären Zustände in Paris.

Die Projektstadt Berlin hingegen lädt allabendlich zu einer Teilhabe an einem Projekt ein, ob in einer Bar oder auf einer Vernissage. Räume sind leicht zu finden und bezahlbar. Und: Da, wo Freizeit im Übermaß und Geld ein Mangel ist, gedeihen Ideen. Damit ist Berlin eine äußerst produktive Stadt, was die Kunst angeht. Monatlich entstehen neue Galerien; Projekt- und Ausstellungsräume schießen aus dem Boden. Damit ist eher Quantität die Folge der prekären Zustände in Berlin.

Leidet die Qualität an ihrer Quantität? Wohl kaum. Zwar besteht nicht nur die Gefahr, dass der Künstler im Berliner Nachtleben untergeht, welches in seiner Faszination und Schönheit auch schnell zum Verhängnis werden kann, sondern auch in der enormen Vielfalt des vorhandenen Angebots. Dann bliebe der romantische Traum von Berlin ein Traum. Doch ist es gerade die Masse, die den Künstlern als Inspirationsquelle dient und wiederum auch die Konkurrenz schafft, gegen die sich durchzusetzen, das Eigene oft stärkt.