Die Töne und der Tod

BROADWAY IN BERLIN Eine sterbenskranke Musikwissenschaftlerin will unbedingt mit ihrer letzten Obsession fertig werden. „33 Variationen“ am Renaissance-Theater bemüht sich um eine Bildungsbühne der etwas anderen Art

Irgendwann, als es mit Katherine zu Ende geht, erscheint Beethoven der Moribunden

VON TIM CASPAR BOEHME

Katherine Brandt könnte zu beneiden sein. Die amerikanische Musikwissenschaftlerin und Beethoven-Forscherin bekommt die unwahrscheinliche Ehre, als Mensch der Gegenwart mit dem Komponisten höchstpersönlich zu sprechen. Leider halluziniert sie nur, und sterben muss sie auch noch bald, was auf der Bühne alles wenig überzeugend wirkt. Aber zum Glück ist da noch die Musik. „33 Variationen“ heißt das Stück über Beethoven und Loslassen, das am Sonntag im Renaissance-Theater Premiere hatte. Auch der für Kultur zuständige Bürgermeister war zugegen.

Die Sache ist schon seltsam. Ein Wiener Verleger und Komponist mit Namen Diabelli schreibt im 19. Jahrhundert einen kleinen Walzer und schickt ihn an namhafte Komponisten mit der Bitte um eine Variation. Die Verkaufsidee: ein Sammelband mit 50 Stars aus Wien von Schubert bis Liszt. Leider will einer nicht mitmachen. Der alte Grantel Beethoven lästert über den „Schusterfleck“, der ihm geschickt wurde, und lehnt ab. Irgendwie scheint es ihn dann doch gepackt zu haben, denn nach vier Jahren liegen stolze „33 Veränderungen über einen Walzer von Anton Diabelli“ vor, Beethovens letztes großes Klavierwerk. Nicht gerade der Stoff, aus dem Broadway-Produktionen gemacht werden.

Doch „33 Variationen“ ist genau das. Moisés Kaufman, unter anderem bekannt für sein Oscar-Wilde-Drama „Gross Indecency“, hat das Stück geschrieben, das vergangenes Jahr mit Jane Fonda in der Hauptrolle am Broadway uraufgeführt wurde. Am Renaissance-Theater ist es Rosel Zech, die die Musikwissenschaftlerin Katherine Brandt gibt und ihrer Beethoven-versessenen Todkranken ein plausibel zupackendes Format verleiht. Dass die Geschichte nicht rund wird, ist ganz bestimmt nicht ihre Schuld. Auch nicht die der Pianistin Soo-Jin Anjou, die den Großteil der Beethoven-Variationen im Verlauf des Stücks zu Gehör bringt.

In Kaufmans Stück geht es vordergründig um den Drang einer Wissenschaftlerin, einem Geheimnis der Musikgeschichte auf die Spur zu kommen. Warum hat Beethoven das Angebot Diabellis erst abgelehnt, um dann dessen schlichten, wenig inspirierten Walzer in jahrelangem Ringen zu einem der größten Variationszyklen der Klaviermusik auszubauen, einem Werk, das obendrein das bisherige Verständnis dessen, was eine Variation ist, rabiat auf den Kopf gestellt hat?

Im steten Wechsel zwischen Geschichte und Gegenwart sieht man zum einen Beethoven, der sich immer mehr in seine Aufgabe verbeißt, nicht aufhören kann, neue Möglichkeiten zu erproben und darüber Großwerke wie die 9. Sinfonie vernachlässigt, dazu den immer verzweifelter drängelnden Diabelli sowie Beethovens vermittelnden Sekretär und ersten Biografen Anton Schindler, dem die Überlieferung dieser Anekdote zu verdanken ist. Zum anderen erlebt man die rastlose Forscherin Brandt, wie sie um jeden Preis die Frage nach Beethovens Motiven für die Komposition der „33 Veränderungen“ klären will, und das, obwohl sie sterbenskrank ist und ein denkbar schlechtes Verhältnis zu ihrer Tochter hat, das auf Klärung dringt. Stattdessen fliegt sie nach Bonn, wo sie im Archiv des Beethoven-Hauses die Skizzen zu den Variationen unter die Lupe nimmt. Parallel dazu verschlimmert sich ihr Zustand rapide. Irgendwann, als es mit Katherine zu Ende geht, vermischen sich die beiden Ebenen, und Beethoven erscheint der Moribunden. In dieses bürgerliche Bildungstheater musikgeschichtlicher Ausrichtung passt die unglückliche Mutter-Kind-Beziehung wie ein Tuningspoiler an einen Oldtimer. So ist es ausgerechnet die ins Rheinland nachgereiste Tochter Clara, die ihrer Mutter zur Antwort auf die Frage verhilft, warum Beethoven sich überhaupt mit der vermeintlich minderwertigen Walzer-Vorlage abgegeben hat. Als Clara die Melodie vor sich hin pfeift, weil sie das Stück „schön“ findet, begreift die Mutter, dass es Beethoven nicht, wie sie angenommen hatte, um den kraftmeierischen Beweis ging, aus Schrott hohe Kunst zu zaubern, sondern dass er zeigen wollte, wie viel musikalisches Potenzial schon in dem schlichten Stück angelegt war. Darum herum ist allerlei ähnlich grobes Zeug gestrickt, das einem die gut zwei Stunden auf den mäßig bequemen Sitzen des Renaissance-Theaters irgendwann lang werden lässt. Daran kann auch Rosel Zech nicht viel ändern, die mit Robert Gallinowski als Beethoven/Schindler und Ralph Morgenstern als Diabelli kräftige Unterstützung bekommt.

Der eigentliche Star des Stücks ist hingegen die Pianistin Soo-Jin Anjou, unauffällig am Bühnenrand versteckt. Ihr zurückhaltender Part hat nicht nur den interessantesten Text – Beethovens Noten nämlich –, sondern gibt dem ganzen Schauspiel-als-Bildungsveranstaltung-Konzept erst Sinn. Das gilt besonders für die Szenen im Beethoven-Haus, wo Katherine in den Skizzen die verschiedenen Entwürfe zu den Variationen entdeckt und so die Entwicklung des Werks rekonstruieren kann. Wenn Anjou parallel dazu die Skizzen auf dem Klavier spielt, meint man zu hören, wie die Musik in Beethovens Kopf entstand.

■ „33 Variationen“. Renaissance Theater, 20 Uhr, bis 31. Januar. Weitere Aufführungen im März