IM HAUPTBAHNHOF
: Abreise

Kalte Automaten, durchgefegter Beton

Der Hauptbahnhof ist kein Kopfbahnhof. Manche Züge fahren einfach so durch. Die Abfahrtshalle ist kühl, laut und farblos. Eine hallende Kulisse eines alten, traurigen Films. Tauben halten Tiefflugübungen ab, aus den Lautsprechern klirren erratische Durchsagen, die Menschen wirken gehetzt. Geschäftsleute bilden die Hauptklientel, die Frauen sind schick oder schieben ihre Kinder weg. Alle geben sich unnahbar. Kaum jemand sticht aus der Menge heraus.

Ich schaue auf die Anzeigetafeln und suche meine Fahrkarte, kratze mir das rechte Ohr, während ich versuche, Orientierung zu gewinnen. Hilft nicht. Der Bahnsteig sieht aufgeräumt aus. Nahezu klinisch. Kalte Automaten, durchgefegter Beton, stille Monitore, die Änderungen der Abfahrtszeiten melden.

Eine uniformierte Frau hat mich bemerkt. Ein alter Reflex setzt ein, ich verschanze mich hinter einem Stützpfeiler. Aus dem Licht nähert sich eine quietschende Schlange mit Löchern. Der Zug. Kaum hat er ausgebremst, beginnt sich die Menge auf dem Bahnsteig in Zusteiger und Empfänger zu teilen. Die Zusteiger schieben sich an eine Linie heran, warten aufs Öffnen der Türen, während die anderen Abstand halten, in den Zug schauen, versuchen, unter den Aussteigern ihre Gäste, Partner, Freunde, Verwandten auszumachen. Ich schleiche um den Pfeiler herum, schlüpfe zwischen einem Pulk asiatischer Touristen, die umständlich mit Faltplänen hantieren, durch eine offen stehende Waggontür. Ein Sicherheitsblick, ein leerer Gang, ein leeres Abteil. Den Koffer werfe ich ins Gepäcknetz, dann schiebe ich das Fenster herunter und spähe auf den Bahnsteig. Die Frau in Uniform steht immer noch da. Sie schaut mich abwägend an und nimmt eine Trillerpfeife in den Mund. Ein Pfiff, ein Uhrzeiger, der sich um eine Minute nach vorne bewegt, ich freue mich, die Laune steigt, der Zug rollt an. RENÉ HAMANN