Protest der Achtzigjährigen

DISSIDENTEN IN CHINA Liu Xiaobo kämpft für Meinungsfreiheit und wurde zu elf Jahren Haft verurteilt. Die Solidarität mit ihm wächst

Auf ausländischen Webseiten ist jetzt auch Liu Xiaobos Verteidigungsrede zu finden

VON JUTTA LIETSCH

Ein neues Zeichen von Zivilcourage in China: Für den am 25. Dezember zu elf Jahren Gefängnis verurteilten Oppositionellen Liu Xiaobo haben sich jetzt vier alte Parteifunktionäre in einem offenen Brief an die KP-Führung eingesetzt. „Wenn die Demokratie, das Prinzip der Rechtsstaatlichkeit und die Menschenrechte, für die wir alten Kameraden unser gesamtes Leben gekämpft haben, beiseitegeschoben werden, ruhen unsere Herzen niemals in Frieden.“

Die vier Männer – ein Exchefredakteur des KP-Blatts Volkszeitung, Ehrenmitglied der Chinesischen Akademie für Sozialwissenschaften und zwei frühere Mitarbeiter der amtlichen Nachrichtenagentur Xinhua – sind allesamt über achtzig Jahre alt. Das dürfte sie schützen, doch die Traditionen der KP verbieten es, sich öffentlich mit Genossen anzulegen.

Liu war wegen „Untergrabung der Staatsgewalt“ verurteilt worden. Das Gericht hielt ihm seine Mitautorenschaft an der im Jahr 2008 verbreiteten Charta 08 sowie sechs Internetartikel vor, in denen er sich kritisch zur Politik der KP äußerte und verlangte, „die Macht dem Volke zurückzugeben“. Der Richterspruch gegen Liu, fordern nun die vier, müsse revidiert werden, weil es „auf falscher Grundlage“ gefällt worden sei. Der 54-Jährige ist unter anderem verurteilt worden, weil er sich für eine „Bundesrepublik“ China eingesetzt habe.

Der Begriff „Bundesrepublik“ sei aber „eine korrekte Parole“, die aus den frühen Tagen der Kommunistischen Partei stamme: „Wenn der Richter die Verfassung verletzt und keine Ahnung von Parteigeschichte“ habe, dann schade dies dem Ruf Chinas und der Kommunistischen Partei. Das Gericht hatte zuvor eine öffentliche Berufungsverhandlung abgelehnt.

Der Brief der vier Alten ist jüngster Hinweis, wie stark das scharfe Urteil gegen Liu nicht nur Bürgerrechtler und regierungskritische Intellektuelle, sondern auch KP-Mitglieder beunruhigt.

Statt der erhofften Abschreckung erzielten die Behörden das Gegenteil – mehr Solidarität. So veröffentlichte Cui Weiping, Dozentin an der Pekinger Filmakademie, gleich nach dem Urteil per Twitter und über Textnachrichten die Reaktion von Schriftstellern, Anwälten, Künstlern, Akademikern und anderen prominenten Persönlichkeiten. „Bedeutet das etwa, dass sich künftig niemand Gedanken über unser Land machen darf?“, fragte zum Beispiel der Filmemacher Jia Zhangke.

Sie sei „sehr traurig“, erklärt die 68-jährige Schriftstellerin Zhang Yihe, die während der Kulturrevolution als „Konterrevolutionärin“ für zehn Jahre im Lager verschwand und seither in ihren Büchern das Leben verfolgter Künstler, Politiker und Gelehrter porträtiert. Eines ihrer Werke ist unter dem Titel „Vergangenes vergeht nicht wie Rauch“ auf Deutsch erschienen.

Zhang: „Liu und ich sind beide für unsere Worte zu Verbrechern gestempelt worden, im Abstand von 41 Jahren. Da kann man sich nur fragen: Hat sich unser System wirklich so viel verbessert?“ Viele rechnen damit, dass sich das politische Klima in den nächsten Jahren weiter verschärft. Es herrsche „Endzeitstimmung“ in der politischen Führung, sagt Zhang.

Obwohl im chinesischen Internet alle Artikel von Liu blockiert sind, können findige Chinesen die Zensur im Internet überwinden. Auf ausländischen Webseiten ist jetzt Lius Verteidigungsrede zu finden, ebenso wie das Schlussplädoyer, das er im Gerichtssaal nicht vortragen durfte.

Die Verfassung Chinas garantiere Meinungsfreiheit, argumentiert Liu, seine Aufsätze seien mithin nicht strafbar. Er habe sich stets für „schrittweise, friedliche, geordnete und kontrollierte“ Reformen eingesetzt. „Opposition ist nicht Umsturz.“ Liu: „Ich bereue nichts.“

Auch aus dem Ausland bekommt Liu Unterstützung. „Für seine Tapferkeit und die Klarheit seiner Gedanken über die Zukunft Chinas“, schrieb der frühere tschechische Präsident Václav Havel und Autor der Charta 77 in einem Zeitungskommentar, „verdient Liu den Friedensnobelpreis 2010.“