Beethoven bei BMW in Istanbul

KULTURKAMPF IN DER TÜRKEI Die traditionell europäisch geprägten Eliten verlieren an Einfluss. Doch Unternehmen und Intellektuelle wehren sich gegen die religiös-nationalistische Kulturoffensive der AKP-Regierung. Allerdings fehlen dieser die profilierten Kulturpolitiker

Sichtbar wird die Förderung religiöser Musik, osmanischer Hofmusik und tanzender Derwische

VON PHILIPP GESSLER

Am Ende lässt es Sascha Goetzel noch mal richtig krachen. Weil der Applaus von vielen hier im Istanbuler Lütfi Kirdar International Convention and Exhibition Centre kein Ende nehmen will, wechselt der österreichische Dirigent mit der ersten Geigerin ein paar Sätze, hebt den Taktstock und lässt die letzten Takte von Beethovens Neunter als Zugabe noch einmal spielen – das Publikum dankt es ihm erneut mit fast frenetischem Beifall. Nein, mit Pathos haben Türken kein Problem.

Das Konzert des Borusan Istanbul Philharmonic Orchestra (Bipo) Mitte Januar ist ein Ausrufezeichen. Zwei Tage vor der offiziellen Eröffnung der Istanbuler Feierlichkeiten zur Auszeichnung „Kulturhauptstadt Europas“ betont das Bipo mit Beethovens 9. Symphonie, der Europahymne, die Ausrichtung nicht nur dieses Orchesters nach Europa – auch das Publikum, die säkular-westlich geprägte Kulturelite der Metropole am Bosporus, ist ganz im Sinne des Staatsgründers Mustafa Kemal Atatürk mitten in Europa zu Hause. Kopftücher sucht man unter den vielen Hundert Zuhörerinnen des Konzerts vergeblich. Wäre nicht das Verkehrschaos vor der Tür und die vielen Wangenküsschen der Männer im Saal, das Konzert könnte ebenso gut in Stockholm, Wien oder London stattfinden. Mag Europa der Türkei trotz der offiziellen EU-Beitrittsverhandlungen mittlerweile die kalte Schulter zeigen – zumindest die Istanbuler Wirtschafts- und Kulturszene orientiert sich weiterhin klar nach Westen.

Ahmet Kocabiyik ist dafür ein gutes Beispiel. Aus den mächtigen Boxen seines Büros am Bosporus klingt ebenfalls Beethovens Neunte, als der Konzernchef mit dem Brilli im linken Ohrläppchen zum Interview bittet. Der höfliche Industrielle ist der Mäzen des Bipo, mehr noch: Der kunstsinnige Manager der Borusan-Holding hält sich das Orchester nun schon seit Jahren als eine Art Spielzeug der Sonderklasse. Bis zu zehn Millionen Dollar gibt Kocabiyik für die kulturellen Aktivitäten seines, flapsig gesprochen, riesigen Gemischtwarenladens aus.

Kocabiyiks Holding gehört zu den großen Familienunternehmen der Türkei: Jahresumsatz: drei Milliarden US-Dollar. Das Geld verdient man vor allem mit Röhren. Das Herz des Konzernchefs aber gehört der Kultur, weshalb er etwa zwei wunderschöne Altbauten an der Istiklal-Straße, der zentralen Einkaufsmeile der türkischen Metropole, zu öffentlichen Kultur- und Ausstellungszentren hat ausbauen lassen. Versteht er dieses kulturelle Engagement seines Konzerns auch als eine Art, um die europäische Tradition der Türkei zu betonten? „Ja“, meint Kocabiyik mit einem Lächeln, während aus den Boxen „Freudig, wie ein Held zum Siegen“ dröhnt, „der Dialog ist wichtig. Und die beste Sprache ist die Musik, denn die ist universell verständlich.“ Und dann, etwas vorsichtiger: „Wir teilen da ähnliche Werte.“

Das Bipo, das kürzlich erstmals eine CD mit Werken von Ottorino Respighi, Florent Schmitt und Paul Hindemith für den internationalen Markt veröffentlicht hat, will nach Europa. Es strebt in die erste Liga der europäischen Orchester – und wenn man bedenkt, wie abenteuerlich die Bedingungen für diese lange Reise sind, dann zollt einem diese Anstrengung schon Respekt ab. So mussten die Musiker in einer Halle unter dem Dach einer Istanbuler BMW-Vertretung für die CD-Aufnahme proben, während wenige Meter unter ihnen Kfz-Mechaniker Luxuslimousinen reparierten. Kocabiyiks Holding importiert die bayerischen Edelkarossen in die Türkei, Kultur und Geschäft sind in diesem Konzern eng verwoben.

Kocabiyiks kulturelles Engagement ist nicht untypisch. Das private Mäzenatentum hat in der Türkei durchaus Tradition, zumindest seit Atatürks Zeiten, als sich das Land mit brachialer Kraft nach Europa aufmachte. Heute haben sich die großen Unternehmen der Türkei den Markt des Kultursponsorings mehr oder weniger aufgeteilt: Während die klassische Musik eine Domäne der Borusan-Holding ist, fördert die Akbank in erster Linie den Jazz. Die Eczacibasi Holding, die vor allem mit Arzneimitteln, Baukeramik und Körperpflegemitteln Geschäfte macht, hat sich auf die Förderung von Malerei spezialisiert. Die Isbank, die größte Privatbank der Türkei, unterstützt unter anderem Kulturkonferenzen.

Bezeichnend ist, dass es anfangs der Initiative der nur zivilgesellschaftlichen Istanbuler Kultur- und Kunststiftung bedurfte, damit die europäisch-asiatische Metropole überhaupt den Titel „Kulturhauptstadt Europas“ erringen konnte. Die Stadt und der Staat hatten sich da lange Zeit nicht mit Ruhm bekleckert. Nun aber wird schon geklotzt: Mit rund 270 Millionen Euro wird im Rahmen des Kulturhauptstadtjahrs das kulturelle Leben Istanbuls gefördert – die EU steuert so gut wie nichts bei, weil die Türkei kein Mitglied dieser Union ist.

Und hier wird die Sache hoch politisch. Denn zunächst Istanbul, dann die ganze Türkei wird seit Jahren von der gemäßigt islamischen Regierungspartei AKP unter Ministerpräsident Recep Tayyip Erdogan regiert. Wohl deshalb reagiert man in der Kulturhauptstadt-Agentur fast schon pampig auf die Frage, ob man beim offiziellen Programm vielleicht Rücksicht genommen habe auf muslimische Empfindlichkeiten. Stichwort: der Skandal um die Idomeneo-Aufführung an der Deutschen Oper Berlin vor vier Jahren. Natürlich, heißt es bei der Agentur leicht pikiert, habe man auf solche Sensibilitäten nicht geachtet. Es passt, dass die „2010 Agency“ des Istanbuler Tourismusbüros in einem Stadtpalais aus der Gründerzeit untergebracht ist, das in so etwas wie Neorokoko-Pracht erstrahlt. Hier, unter den Bildern leicht gekleideter Damen an der Decke, wartete einst eine Kurtisane des Kalifen auf dessen Besuch. Die europäische Orientierung der Türkei war in gewissen Dingen eben immer schon vorhanden.

Das private Mäzenatentum hat seit Atatürks Zeiten in der Türkei durchaus Tradition

Hat aber der Wahlsieg von Erdogan und seiner islamischen Partei AKP vor sieben Jahren die kulturelle Atmosphäre verändert? Wurde in Istanbul und Ankara die eher europäisch geprägte Hochkultur der türkischen Elite à la Beethoven und Chagall zurückgedrängt zugunsten von Folklore und öffentlicher Koranrezitationen? Und sind Akzentverschiebungen in diese Richtung bei der AKP-Kulturpolitik zu beachten, parallel zu der außenpolitischen Neuorientierung der Türkei, die sich sanft, aber zunehmend wieder von Europa ab- und den asiatischen Nachbarn im Osten, Norden und Süden zuwendet, sodass manche sogar schon von einer „neoosmanischen Außenpolitik“ reden, wie Jürgen Gottschlich es jüngst in dieser Zeitung tat?

Der Theaterautor und Publizist Aydin Engin warnt, man solle nicht übertreiben. Doch auch er sagt: „Allmählich hat die AKP-Regierung die Achse etwas verschoben.“ Man könne in der Kulturpolitik durchaus „von einem Kurswechsel sprechen“. Sichtbar werde das etwa an der Förderung religiöser Musik, osmanischer „Hofmusik“ und tanzender Derwische, deren Aufführungen von manchen schon als „nationales Ballett“ angehimmelt würden.

Ein Zeichen für diese Veränderung, so Engin, sei auch, dass im staatlichen Radiosender TRT immer weniger klassische Musik gesendet werde – und die auch noch in schlechterer Qualität als früher. Ein Problem sei, dass die AKP kaum über Kulturpolitiker von nationaler Bedeutung verfüge, was auch an der zunächst fehlenden staatlichen Unterstützung bei der Bewerbung um den Titel „Kulturhauptstadt Europas“ zu beobachten war, meint Engin. Der 68-Jährige, verheiratet mit der bekannten Schriftstellerin Oya Baydar, gehört zu den linksliberalen, säkular und europäisch geprägten Intellektuellen des Landes. Nach dem Militärputsch verbrachte er zwölf Jahre im deutschen Exil. In Frankfurt am Main arbeitete er als Taxifahrer und kann lustige Geschichten über seinen damaligen Kollegen Joschka (Fischer) erzählen.

Aber wendet sich der türkische Staat tatsächlich auch in der Kulturpolitik von seiner europäischen Tradition ab, die er seit Atatürk so gepflegt hatte? Bei der feierlichen Eröffnung des Kulturhauptstadtjahres traf sich vor zwei Wochen die politische und künstlerische Elite des Landes in einem Veranstaltungszentrum am Bosporus. Auf der Bühne wurde neben vielen staatstragenden Reden etwa von Erdogan moderner Tanz und sanfte Popmusik geboten. Auch ein paar Volkssänger, eine anatolische Folkloregruppe und – unvermeidbar! – tanzende Derwische traten auf. Auffällig war schon, dass die Gäste des großen Ereignisses gleich am Anfang von einem Frauenorchester empfangen wurden, das alte türkisch-osmanische Musik spielte und sang. Ein kleines klassisches Orchester war dagegen bei dem Empfang in eine Ecke gequetscht worden – und musste dort tapfer gegen das geringe Interesse der Anwesenden anspielen. Auf der Bühne ertönte zum Abschluss der über zweistündigen Show noch einmal Beethovens Neunte, gesungen von einem Chor von Kindern, die blaue Europafähnchen schwenkten. Das, immerhin, war ein klares Bekenntnis zu Europa. Zumindest der nächsten Generation.