„Die sind ja noch verrückter als wir“

GO WEST Ein Gespräch mit Guo Xiaolu über ihren Film „She, a Chinese“ und darüber, wie sie die Metropole Peking politisiert hat

■ Sie kam 1973 in Südostchina zur Welt. Bevor sie 2002 in der Nähe von London ein Regiestudium aufnahm, hatte sie an der Filmakademie von Peking studiert. Zu ihren Filmen zählen „How Is Your Fish Today?“ (2006) und „Once Upon a Time Proletarian“ (2009). Für „She, a Chinese“ wurde sie in Locarno mit dem Goldenen Leoparden ausgezeichnet. Zugleich hat sie diverse Romane veröffentlicht, unter anderem „Kleines Wörterbuch für Liebende“ (2007) und „Ein Ufo, dachte sie“ (2009).

INTERVIEW: CRISTINA NORD

taz: Frau Guo, es gibt einen Film von Jean-Luc Godard namens „La Chinoise“ aus dem Jahr 1967. Ihr Film heißt „She, a Chinese“. Das ist doch sicher kein Zufall, oder?

Guo Xiaolu: Nein, so etwas ist nie Zufall. Ich habe „La Chinoise“ gesehen, als ich 19 Jahre alt war, an der Pekinger Filmakademie, einer recht intellektuellen Hochschule. Wir haben gelacht, denn da waren diese schönen, jungen Pariser Menschen, die sich nach der chinesischen Revolution verzehrten. Für uns bedeutete die chinesische Revolution gewalttätige Unterwerfung. Wir sahen also den Film und dachten: Die sind ja noch verrückter als wir! Ich wollte ursprünglich so etwas wie eine spiegelverkehrte Version des Filmes drehen, also die Geschichte von kommunistischen Chinesen erzählen, die sich den Kapitalismus und die entfremdete Welt anschauen. Aber ich habe lange an dem Drehbuch gearbeitet, und dabei ist die Geschichte einfacher geworden. Jetzt geht es um die Reise einer jungen Frau aus China in den Westen und ganz konkret darum, wie ihr Körper im Kapitalismus ankommt.

Godard hat Mao und die Kulturrevolution bewundert und tut dies bis heute. Ihre Eltern saßen während der Kulturrevolution im Gefängnis. Überkommt Sie Bitterkeit, wenn Sie mit den Idealisierungen westlicher Intellektueller konfrontiert sind?

Nein. Bei französischen Intellektuellen kommt die Sehnsucht nach der Revolution aus einem bourgeoisen Schuldgefühl. Die chinesische Revolution war die Revolution armer Leute, sie hatte das Ziel, die Armut zu überwinden. In Frankreich ging es in den 50er-, 60er-Jahren eher um eine Revolution in Gedanken, um eine intellektuelle Bewegung. Denn in einer bürgerlichen Gesellschaft sind die Leute nicht bereit aufzugeben, was sie besitzen – ihr Haus, ihre Familie. Das geht nur in Ländern der Dritten Welt, wo die Leute nichts besitzen.

Vor 40 Jahren haben sich westliche Künstler und Intellektuelle für Mao begeistert, heute gibt es andere Projektionen. Was meinen Sie – was wird heute auf China projiziert?

Die chinesische Gesellschaft ist so komplex und unverständlich. Die kommunistische Revolution ist ja – verglichen mit den Jahrhunderten des Feudalismus und der Kaiserzeit – eine relativ neue Sache, der Kapitalismus ist noch neuer. China hat anders als der Westen keine Industrialisierung erlebt, die Industrialisierung kommt erst jetzt, nach dem Kommunismus, die Reihenfolge ist gewissermaßen vertauscht. Und es gibt eine große Kluft zwischen der kommunistischen und der kapitalistischen Ideologie und den feudalen Resten in der Gesellschaft. Diese Kluft wird weder in China noch im Westen ganz begriffen. Aber das hat auch etwas Gutes: Die Literatur und das Kino in China zeigen eine chaotische, komplexe Wirklichkeit, anstatt Antworten parat zu haben. Und jeder apolitische Film ist in Wirklichkeit politisch, weil er verhandeln kann, wie die Ideologien und die vielen Schichten der Realität aufeinandertreffen.

In Ihrer Arbeit ist die Kluft sehr gegenwärtig. Die Protagonistin in „She, a Chinese“ stammt aus einer ländlichen Gegend und bewegt sich von dort in die Stadt; in Ihrem Roman „Ein Ufo, dachte sie“ geht es darum, wie der Kapitalismus in ein Provinznest einbricht, das eigentlich noch feudal organisiert ist.

Es geht eher um das existenzielle Problem eines kleinen Individuums, das von der politischen und ökonomischen Maschine überrollt wird. Der kleine Bauer ist das Opfer der Geschichte, er ist es immer gewesen, auch zu Maos Zeiten. Das Individuum existiert einfach nicht, es wird kurzerhand zu einem Agenten der Landwirtschaft. Und nachdem das UFO in dem Dorf gesichtet worden ist, wird es zum Agenten der Industrie. Es gibt keine individuelle Identität.

Wenn es keine Individualität gibt, was hat das für Folgen für Li Mei, die Protagonistin von „She, a Chinese“?

Sie ist eine einsame Figur. Sie verbindet sich nicht mit der Welt, sie ist entfremdet – ganz gleich ob im Dorf, in der Stadt oder später in London. Ein losgelöster, postmoderner Charakter. In China wird einem eine politische Identität aufgezwungen, individuelle Identität soll sich nicht entfalten. Und nicht nur in China: Wenn einer Christ ist, wird er fundamentalistischer Christ, wenn einer Muslim ist, fundamentalistischer Muslim. In meinen Augen ist diese Form von Identität eine kranke, künstliche Vorgabe, fast wie eine schmutzige Verschwörung, die man mit der Gesellschaft eingeht. Denn ohne Identität existiert man nicht.

Ich schaue mit kalten Augen auf die politische Hitze um mich herum

Der Zuschauer kann Li Mei nicht in den Kopf gucken. Und der Film wirkt, als sei Ihnen diese Undurchsichtigkeit der Hauptfigur sehr wichtig.

Als ich nach der Schauspielerin suchte, wollte ich jemanden, den man nicht ganz versteht. In vielen chinesischen Filmen haben die Frauenfiguren sehr dramatische Gesichter, sie neigen dazu, das Drama überzubetonen. Das wollte ich nicht. Huang Lu, die Darstellerin, sieht fast wie ein junger Mann aus, ein bisschen asexuell. Mir liegt ja gar nicht an einer klassischen Erzählweise, bei der der Zuschauer an jeder Emotion der Figur teilhat. Ich mag es, wenn der Erzählfluss gestört wird.

Ist das der Grund, warum „She, a Chinese“ so skizzenhaft ist?

Ja. Die Wirklichkeit ist chaotisch, und deshalb ist das Bruchstückhafte in der Narration der Wirklichkeit angemessen. Hollywood arbeitet mit diesen sauberen, autoritären Narrationen, davon halte ich nichts. In „She, a Chinese“ lasse ich eingeführte Figuren einfach fallen, ich beginne ein neues Kapitel, das Drehen ist sehr frei, um die Kontinuität mache ich mir keine Sorgen.

Sie selbst sind ja auch von einem Dorf in Südostchina nach Peking und dann nach London gegangen, ähnlich wie Li Mei im Film und wie die Hauptfigur Ihres Romans „Kleines Wörterbuch für Liebende“. Ich will gar nicht wissen, was autobiografisch an Ihrem Film ist, eher, wie sich die biografische Erfahrung im Filmemachen und Bücherschreiben niederschlägt.

Ich glaube, was wichtig ist, das sind die sozialen Landschaften. Aufgewachsen bin ich in einem bäuerlichen Umfeld, was mir beigebracht hat: Der Mensch ist machtlos gegenüber der Natur. Ein Bauer muss im Boden wühlen, damit er morgen Reis hat. Ich bin am Meer aufgewachsen, es gab Monsunregen und Taifune, immer wieder gingen Boote kaputt, immer wieder ertranken Menschen. Als ich 19 Jahre alt war, zog ich nach Peking, eine Stadtlandschaft, die angereichert mit Ideologie ist. Diese Erfahrung hat mich politisiert, mich zum Zweifeln gebracht. Ich schaue mit kalten Augen auf die politische Hitze um mich herum. In meinen Filmen und Büchern versuche ich, all dies zu registrieren, anstatt irgendetwas zu beweisen.

Ihr Film ist eine internationale Koproduktion, mehrere Produktionsfirmen, Fernsehsender und Filmfördergremien haben ihn finanziert. Das ist natürlich gut, weil es Ihnen das Drehen ermöglicht. Aber ist es nicht auch schwierig, die Anforderungen all dieser Firmen, Fonds und Sender zu erfüllen?

■ Der Film erzählt von Li Mei (Hunag Lu), die ihr tristes Heimatdorf verlässt, sich in einer Großstadt notdürftig über Wasser hält und schließlich nach London geht, wo sie, um ihre Aufenthaltspapiere zu bekommen, einen Rentner heiratet. Der Film verzichtet auf eine stringente Narration, er ist elliptisch und skizzenhaft, harte Ton- und Bildschnitte bestimmen den Rhythmus. Die Regisseurin selbst spricht von einer „Punk-Energie“, die sie auch durch Soundtrack und Montage vermitteln wollte.

■ „She, a Chinese“, Regie: Guo Xiaolu. Mit Huang Lu, Wei Yi Bo u. a. Großbritannien, Deutschland, Frankreich 2009, 98 Min.

Es ist sehr schwierig, aber es geht. Als Filmemacher aus der Dritten Welt hat man nicht viele Möglichkeiten. Man wird nie Mainstream-Kino machen, das kommerziell erfolgreich ist. Man kann Guerilla-Filme drehen, wie ich es mit „Once Upon a Time Proletarian“ gemacht habe, nur ich und die Kamera und los. Aber „She, a Chinese“ kann nicht reines Guerilla-Kino sein, denn der Film spielt zum Teil in London, in einer extrem durchreglementierten Gesellschaft, da kann ich nicht einfach auf die Straße gehen und filmen – ich würde sofort verklagt. Das heißt, ich bin auf die europäischen Produzenten und Fördergremien angewiesen. Es ist nicht leicht, dabei den eigenen Ton zu bewahren. Zum Beispiel: Man hat keine Beziehung zu Berlin, muss aber trotzdem in Berlin drehen. Das ist nicht sehr authentisch, aber Geld ist nie authentisch.

Sie wehren sich dagegen, dass chinesische Künstler entweder als Dissidenten oder als regierungstreu wahrgenommen werden. Sie möchten, dass die Aufmerksamkeit in erster Linie Ihren Filmen und Büchern gilt. Ist das nicht schwierig, vor dem Hintergrund, dass der Schriftsteller Liu Xiabo zu mehreren Jahren Haft verurteilt wurde, dass kürzlich ein tibetischer Filmemacher inhaftiert wurde und das Pekinger Filmbüro immer wieder ausländische Festivals boykottiert?

Es ist immer schwierig! Aber die wirtschaftliche Zensur ist viel ekelerregender als die politische Zensur.

Aber haben Sie nicht den Drang, sich zu positionieren?

Natürlich. Man kann entweder stumm bleiben oder sich ausdrücken, und ein Künstler will sich ausdrücken. Wer aus China kommt, ist an die Rezeption gewöhnt, die sich auf den Mangel an Freiheit und auf die Zensur stürzt, als wären wir in der Sowjetunion. Was im Übrigen nicht heißt, dass die Sowjetunion keinen Tarkowski hervorgebracht hätte. Es ist einfach die Umgebung, in der man arbeitet, darauf muss man sich einlassen.