Wie ein Windstoß im Frühling

GRENZSITUATION Von Henri Rousseau in der Fondation Beyeler in Basel zu Séraphine und den Meistern aus Port-au-Prince in Bönnigheim

Wie viele der jüngeren Künstler hält Obin die Geschichte für eine analphabetische Bevölkerung wach

VON URSULA WÖLL

Die Einstimmung aufs Surreale beginnt an der Grenze, die Station zwischen Lörrach und Basel-Riehen ist verwaist, kein Zöllner weit und breit. Nur wenige Meter weiter, im langgestreckten Flachbau des Museums Fondation Beyeler, hängt das Gemälde einer ähnlichen Zollstation, auch sie in grüne Hügel gebettet, nun jedoch mit einer Person auf dem Dach. Um 1900 malte Henri Rousseau seine Wirkungsstätte als Douanier am Pariser Stadtrand. Da hatte er sich bereits pensionieren lassen, um ganz seiner Obsession zu leben. Zwar lachten die Leute über seine seltsam unwirklichen Bilder, die er nach Fotografien oder Studien im Jardin des Plantes malte. Der Künstler aber glaubte an sich, und auch die malende Avantgarde erkannte das Neue an seiner Kunst, die so ganz unimpressionistisch auf klare Konturen achtet und doch an das Unbewusste rührt.

Erst nach dem Armenbegräbnis kam der Ruhm. 1910, vor 100 Jahren, starb Henri Rousseau mit nur 66 Jahren an einer Blutvergiftung. Nun zeigt das Museum Beyeler vierzig seiner bekanntesten Gemälde. Die grandiose Anklage „Der Krieg“ fehlt leider, doch sind selbstverständlich viele herrliche Dschungelbilder vertreten, auf denen Tiger und Löwe ihr Wesen treiben und Affen durch die in zahllosen Grünabstufungen gemalte Fantasievegetation turnen. Die Kuratoren Philippe Büttner und Christopher Green versuchen, mittels ausgeklügelter Hängung den heute so populären Gemälden neue Aspekte abzuringen. So sind etwa die „Ballspieler“ mit ihren gestreiften Trikots und ihrem roten Ball neben einer „Urwaldlandschaft“ mit roter Sonne zu sehen. Zu Recht insistieren beide, dass die Etikettierung Rousseaus als „Naiver Maler“ zu kurz greift. Zwar verzichtete der Autodidakt auf die Zentralperspektive und korrekte Größenrelationen, gab aber gerade dadurch Kubisten und Surrealisten die gesuchten Impulse und wurde zu einem wichtigen Wegbereiter der Moderne.

So bildet ein Foto des alten Picasso den Auftakt. Er hält das „Selbstporträt des Künstlers mit Lampe“ und das Porträt von dessen zweiter Frau in die Kamera. Daneben sind die zwei kleinen Bilder im Original präsent. Auch das großformatige „Porträt einer Frau“ schätzte Picasso lebenslang. Die strenge Kleinbürgerin im schwarzen Kleid mit blauem Kragen war die einzige Frau, mit der er es bis zu seinem Tod aushielt. Rousseau malte sie vor einem Balkonfenster neben einem bunten, mit Kordel gerafften Vorhang. Hinter den akkuraten Stiefmütterchen im Topf sieht man jenseits des Gitters eine irreale, zerklüftete Traumlandschaft, der die Frau tapfer den Rücken kehrt.

Um dem Ego des Meisters zu schmeicheln, veranstalteten Picasso und Fernande Olivier ein Bankett und setzten Rousseau unter einen Baldachin. Zu dem legendären Fest erschienen Delauney, Braque, Gertrude Stein und Apollinaire. Da aber das Essen für ein falsches Datum bestellt war, musste man auf Ölsardinen und reichlich Wein zurückgreifen.

Auch der in Paris lebende Kunsthistoriker Wilhelm Uhde erkannte sofort die Qualität der Bilder Rousseaus, schon 1911 veröffentlichte er eine erste Monografie. Er unterstützte auch die Malleidenschaft der Séraphine Louis, indem er ihr großformatige Leinwände besorgte. Sie war seine Putzfrau während der Sommerfrische in Senlis und, anders als Rousseau, Außenseiterin in der kleinen Stadt nördlich Paris. Ihren harten Alltag kompensierte sie durch das nächtliche Malen von fantastischen Sträußen aus Blüten, Früchten und Rispen, die wie Flammen bis zum Bildrand züngeln. Uhde vergleicht sie mit alten Tapisserien und Rosetten von Kathedralen. Obwohl das Museum Charlotte Zander in Bönnigheim zwölf ihrer hundert verstreuten Gemälde besitzt, wird die naive Malerin erst jetzt durch den großartigen Film „Séraphine“ bei uns bekannt.

Frucht der Leidenschaft

Wer sich einen Überblick über das reiche Spektrum der Naiven Kunst verschaffen will, sollte diese europaweit größte Sammlung besuchen, die sich in den Weinbergen bei Lauffen am Neckar versteckt. Das rosafarbene Schlossmuseum ist selbst ein Gesamtkunstwerk und die Frucht einer großen Leidenschaft. Die Münchener Galeristin Charlotte Zander ist der Naiven Kunst verfallen, sie kauft seit Jahrzehnten in allen fünf Erdteilen, was an künstlerischer Qualität die Sonntagsmalerei übertrifft. Heute beherbergt Schloss Bönnigheim über 4.000 Spitzenwerke der Naiven und Outsider-Kunst aus aller Welt, darunter zehn Rousseaus. Fast sind die Räume mit dem gebohnerten Parkett überfrachtet, was der verwunschenen Atmosphäre gut bekommt. Jede Malerin, jeder Maler pflegt einen individuellen Stil, wobei länderspezifische Vorlieben für Themen erkennbar werden.

Das gilt besonders für die Künstler aus Haiti, die häufig auch Voodoo-Priester sind. Über vierzig großformatige, farbintensive Gemälde aus dem leidgeprüften Land besitzt das Museum in Bönnigheim. Sie erzählen nicht nur vom ländlichen Alltag und den in ihn verwobenen Voodoo-Zeremonien, sondern vor allem von der berühmten Geschichte des Landes, das sich bereits 1804 von Frankreich unabhängig machte. Als der Amerikaner DeWitt Peters im Jahr 1944 das Centre d’Art in Port-au-Prince gründete, explodierte die Anzahl der Künstler und ihre Kreativität. Selbst der Laufbursche des Centre, Castera Bazile, entwickelte sich zu einem auf Voodoo-Zeremonien spezialisierten Künstler. Das Kunstzentrum, das jetzt vom Erdbeben zerstört wurde, stellte die Infrastruktur bereit, war Begegnungsstätte und machte die bis dahin isolierten Künstler bekannt. André Breton besuchte es 1945 und schrieb, dass ihn ein Bild des Schuhmachers, Voodoo-Priesters und Autodidakten Hector Hyppolite „wie ein Windstoß im Frühling“ überfallen habe.

Zur älteren Künstlergeneration gehört auch der Barbier Philomé Obin, der eine Kunstschule in Cap Haïtien gründete und es bis ins Museum of Modern Art schaffte. Wie viele der jüngeren Künstler hält auch er die Geschichte für eine analphabetische Bevölkerung wach. Immer wieder werden die Helden der Sklavenaufstände und Befreiungskämpfe porträtiert, vor allem Toussaint L’Ouverture, der als Kind selbst Sklave war. Noch unter dem Eindruck der Landung amerikanischer Truppen schuf Berthelus Myrbel 1994 ein Kolossalgemälde, das in unzähligen Szenen detailversessen die von der UNO abgesegnete Invasion gegen den Putschisten Cédras schildert. Aber auch an soziale Traditionen wird erinnert, etwa an die gemeinsame Feldarbeit, zu der Musiker den Arbeitsrhythmus liefern und die mit einem gemeinsamen Essen endet.

Verschlüsselte Kritik

Der weiße Blick bewundert das ungenierte Schwelgen in Farben, den Erfindungsreichtum an Formen und den harmonischen Aufbau der Bilder, vermisst aber deutliche Kritik. Die schwarzen Künstler identifizieren sich mit ihrer Kultur, deren Spiritualität in Afrika wurzelt. Die Duvalier-Diktatur scheint wenig aufgearbeitet, die Verkarstung des Landes und die fehlende Infrastruktur treten kaum als Themen in Erscheinung. Doch zeigt sich Kritik oft verschlüsselt, spielt als Fabel unter Tieren, die für die Haitianer bestimmte, uns aber unbekannte Bedeutungen haben.

■ Bis 9. Mai, Fondation Beyeler, Basel-Riehen, Katalog (Hatje-Cantz Verlag) 64 CHF; Sammlung Zander, Schloss Bönnigheim, Bönningheim