Der Mann, der die Welt beschreibt

JUNGES THEATER Starke Charaktere in großer Verzweiflung zeichnen die Stücke von Nis-Momme Stockmann aus. Er wurde dafür mit Preisen bedacht. Drei Uraufführungen in Heidelberg, Frankfurt und Stuttgart

Der 28-jährige Autor nimmt sich gleich in seinem dritten Stück den gefräßigen Theaterbetrieb selbst vor

Der bis dato unbekannte Autor Nis-Momme Stockmann bringt die Karawane der Großkritiker auf Trab, seit er 2009 mit seinem ersten Stück „Der Mann der die Welt aß“ bei den Stückemärkten in Heidelberg und Berlin die Hauptpreise abräumte. Da war noch gar keines seiner Werke gespielt worden. Seit Mitte Dezember 2009 gab es gleich drei Uraufführungen – zuerst in Heidelberg und Frankfurt und vergangenes Wochenende in Stuttgart.

Lange Prosapassagen, innere Monologe, wenige Figuren, ein Minimum an äußerer Aktion, kaum Dialoge: Von der Form her machen es seine Stücke „Das blaue blaue Meer“ und „Kein Schiff wird kommen“ den Regisseuren nicht leicht.

Die Platte wegsaufen

Doch in Frankfurt wie in Stuttgart haben sie gute Lösungen gefunden. Voll mitreißender Empathie und unterschwelliger innerer Handlungsspannung sind die Texte ohnehin. Marc Lunghuß bringt in Frankfurt die Geschichte um den sich das Hirn und die Verzweiflung wegsaufenden Darko und die 19-jährige Prostituierte Motte, die vergeblich versuchen, aus dem alltäglichen Elend einer Plattenbausiedlung am Stadtrand auszubrechen, im Stil einer Rockperformance auf die Bühne. Den beiden hat er die Musiker Jan Weichsel und Daniel Brandel zur Seite gestellt. Sie mischen sich mit einem vielgestaltigen Sound und als Akteure ins Geschehen ein. Der Darsteller Nils Kahnwald schreit den Schmerz und die Hoffnungslosigkeit Darkos immer wieder auch in Form von Rockrefrains (die das Inszenierungsteam Tocotronic entliehen hat) heraus, während Henrike Johanna Jörissens Motte auf ein Schlagzeug drischt.

Das hat zwar nicht viel mit der Beschreibung eines konkreten sozialen Milieus zu tun, aber es bringt Lebendigkeit in die Szene und erweitert Stockmanns zwischen lyrischen Bildern und hartem Alltagsjargon changierende, schon für sich genommen starke Sprache um eine sinnliche Ausdrucksebene. Allein seine kunstvolle Sprache weist zudem schon darauf hin, dass es dem Autor auch gar nicht um eine akribische Milieustudie ging.

Ein Theaterautor, „im freien Fall“ befindlich, ist die Hauptfigur in „Kein Schiff wird kommen“. Er hat den Auftrag, ein Stück über die Wende zu schreiben, erhofft sich von den Erinnerungen des Vaters Recherchematerial darüber, denn er selbst war 1989 noch ein Kind. Deshalb fährt zurück in seine Heimat, die Insel Föhr. Der 28-jährige Nis-Momme Stockmann nimmt sich also gleich in seinem dritten Stück den nach den Gesetzen des Marktes funktionierenden Theaterbetrieb vor, das gefräßige, Dramatiker und Stücke verschleißende Monster. Regisseurin Annette Pullen teilt die innere Stimme des namenlosen Autors auf zwei Schauspieler auf. Den Hauptprotagonisten verkörpert überzeugend Matthias Kelle, während Lisa Wildmann auch noch andere Rollen übernimmt. So lockert Pullen geschickt die über weite Strecken monologische Struktur des Textes auf.

Der Handlungsstrang, der um Autorenschaffen und Theaterbetrieb kreist, ist in der Stuttgarter Inszenierung jedoch fast zu parodistisch geraten. Beim Lesen des Textes wirkt das ernster und intensiver. Stark wird das Dreipersonenkammerspiel dagegen in der zweiten Handlungsebene, einem verdrängten Familiengeheimnis um Krankheit und Tod der Mutter.

Im Gegensatz zum Protagonisten seines Stücks hat der Autor Nis-Momme Stockmann – trotz offensichtlicher biografischer Parallelen zur Bühnenfigur – alles richtig gemacht. Seine Stücke sind gefragt. Das liegt außer an der sprachlichen Qualität seiner Texte wesentlich an Stockmanns Fähigkeit, nahegehende Charaktere zu schaffen. Bei ihm verstellt nicht die im zeitgenössischen Theater leider zu oft gesehene Künstlichkeit und zugespitzte Übertreibung den Zugang zu den Figuren, obwohl er sie durchaus mit einer kritisch-ironischer Distanz betrachtet.

Der etwa 35-jährige Sohn in „Der Mann der die Welt aß“ ist ein Egoist, der Zuneigung, Unterstützung, schlichtweg alles, was seine Alltagswelt und seine Mitmenschen ihm bieten, konsumiert. Er berührt uns mit seinen hilflosen Versuchen, sich den anderen mitzuteilen, sein Scheitern, Ratlosigkeit, einzugestehen. Auch wenn man ihn ob seines sich dem Erwachsenwerden verweigernden kindischen Narzissmus am liebsten Schütteln würde. Dominique Schnizer hat das stille, fast unmerklich in die Katastrophe mündende Alltagsdrama, das die inneren Beschädigungen seiner ganz gewöhnlichen Helden nur in abgebrochenen, verebbenden Halbsätzen und Konversationsfloskeln aufscheinen lässt, am Theater Heidelberg so puristisch wie anrührend in Szene gesetzt.

Marktgesetze ändern

Allerdings erschließt sich eine von Stockmann im Gespräch postulierte Metaebene – das Eindringen kapitalistischer Strukturen bis in die Familie und das menschlichen Verhalten – nicht ohne weiteres, sie bleibt Behauptung.

Dass Stockmanns Stücke viel Freiraum für die Regie lassen, lässt auf spannende Zweit- und Drittinszenierungen hoffen. Und anders als viele andere Werke der zeitgenössischen Dramatik werden seine Werke nachgespielt. Es böte vielleicht auch eine Chance, die Gesetze des Theatermarktes etwas aufbrechen, wenn das Medieninteresse am gefeierten Jungdramatiker sich nicht nach den Uraufführungen erschöpfte. Die Stücke von Nis-Momme Stockmann jedenfalls sind es wert. Um den Künstler selbst muss man sich vermutlich keine Sorgen machen. Er hat nicht nur das Können, sondern auch das Selbstbewusstsein, sich im Theaterbetrieb zu behaupten. Und anders als dem Protagonisten in „Kein Schiff wird kommen“ gehen ihm offensichtlich auch die Themen und Ideen nicht aus. CLAUDIA GASS