Das komplexe Bild der Welt

LINIE LINE LINEA Von Fernando Bryce über Marc Brandenburg bis zu Jurinde Voigt: Eine Ausstellung im Kunstmuseum Bonn zeigt Werke von 20 Künstlern, die in Deutschland leben und zeichnen

Seit ein paar Jahren erfährt die Zeichnung eine Renaissance

VON ANGELA HOHMANN

Seit frühester Kindheit sind wir mit ihr vertraut, überall im Alltag begegnet sie uns: in Gebrauchsanweisungen, auf Straßenschildern oder Piktogrammen, selbst als Kondensstreifen am Himmel: die Linie als einfachstes Element der Zeichnung. Viel zu lange wurde sie nur stiefmütterlich behandelt, mehr als Hilfsmittel der Malerei, als Skizze und Probebühne für die eigentliche Kunst – das Gemälde oder die Skulptur. Doch seit ein paar Jahren erfährt die Zeichnung eine Renaissance, Künstler entdecken die ganze Brandbreite ihrer Ausdruckmöglichkeiten und Museen die Genuität dieser ursprünglichsten Form künstlerischen Ausdrucks.

Der „Zeichnung der Gegenwart“ widmet nun das Kunstmuseum Bonn unter dem Titel „Linie Line Linea“ eine Ausstellung mit 20 Positionen und 87 Werken, u. a. von so bekannten in Deutschland lebenden Künstlern wie Fernando Bryce (1965), Jorinde Voigt (1977) oder Marc Brandenburg (1965). Initiator der von Volker Adolphs kuratierten Schau, die die Vielfalt des zeichnerischen Universums präsentiert, ist das Institut für Auslandsbeziehungen, das die Werke nach der ersten Station in Bonn um den ganzen Globus schickt: Was hier zu sehen ist, versteht sich also als Bilanzierung der zeitgenössischen Zeichnung in Deutschland. Die sorgfältig erarbeitete Auswahl beschränkt sich dabei auf Arbeiten, die sich auf Stift und Papier konzentrieren, sodass die zeichnerischen Strategien, die den Raum einbeziehen, bewusst außen vor gelassen wurden.

Von Selbstbefragung und Welterkundung über das Spiel mit den Möglichkeiten des Mediums bis hin zum Erzählen und zum abstrakten Experiment reichen die Variationen der Zeichnungen. Dabei wird Wirklichkeit abgebildet, angeeignet, einverleibt, erfunden, verfremdet, verzerrt und vieles mehr. Bleistift, Bunt- und Filzstift, Kugelschreiber, Kohlestift, Tuschfeder und Gravurstift sind die Werkzeuge, mit denen feine Linien gezogen, weiche Flächen entweder schraffiert werden oder allmählich, Strich an Strich, entstehen. Bunte Punkte, akribisch aneinandergereiht, ergeben eine schemenhafte Form. Für einige Künstler sind Fotografien der Ausgangspunkt ihrer Arbeit. Gerhard Faulhaber (1945), der älteste Künstler der Ausstellung, verarbeitet Wärmebilder und Röntgenaufnahmen zu schemenhaften, fast durchsichtig anmutenden Bleistiftzeichnungen von menschlichen Gestalten, während Marc Brandenburg aus ins Negative übersetzten aufklebbaren Zeichnungen von Schwarz-Weiß-Fotografien eine collagierte Sinfonie des Großstadtlebens bastelt.

Dann wieder entstehen aus zarten Linien ganze Welten: Ralf Ziervogel erfindet mit filigranem Tuschestrich ein Pandämonium der Grausamkeit, ganz pornografisches Welttheater, während sich Christian Pilzens (1978) Bleistift im Labyrinth einer Welt verliert, die mit unzähligen detailgenauen Wirklichkeitsfragmenten und vielen – wie bei Escher – ineinander verschlungenen Ebenen nur noch als Versatzstück erkennbar ist. Im Kontrast zu diesen opulenten Bilderwelten stehen abstrakte Kompositionen, wie die mathematisch präzisen und zum Teil mit dem Zirkel ausgeführten federfeinen Tuschezeichnungen von Jorinde Voigt oder die Formenbilder von Nanne Meyer (1953), die mit allem experimentieren, was durch die Bewegung der Hand aus einer Linie entstehen kann.

Raumgreifend wird die Linie bei Katharina Hinsberg (1967), die in ihrer Arbeit „Nulla dies sine linea #3“ (2001) ein quadratisches Blatt Papier in der Mitte mit einer Linie bemalt, diese auf ein weiteres Blatt durchpaust, und das Ganze 932-mal. Am Außenrand der zum skulpturalen Kubus gestapelten Blätter auf weißem Sockel ergibt sich aus den Abweichungen, die beim Durchpausen entstehen, eine neue Linie.

Doch auch erzählen kann die Zeichnung, wie die 126 Blätter umfassende Arbeit „Marcel I“ (1999) von Alexander Roob (1956), die mit filigranem Kreidestift auf Papier – zwischen Storyboard und Zeichentrick – in kindlich-genialer Linienführung von einem Verfolger berichtet, der sich selbst verfolgt fühlt.

Weniger Erzählung als humorvolles philosophisches Gedankenbild sind die schwarzen Filzstiftzeichnungen von Markus Vater (1970) in Arbeiten wie „He wants to make a model of god by filling the ocean with concrete“ (2002), die einen Betonmischer am Kai eines Gewässers zeigt, der gerade seine Ladung entlädt.

Die Vielfalt zeichnerischer Technik und künstlerischen Ausdrucks zeigt, wie lebendig und einfallsreich die Zeichnung ist und wie glücklich wir uns schätzen können, dass sie sich weiterhin als eigenständigen Medium behaupten kann. Die Ausstellung gibt einen exzellenten Einblick in den aktuellen Umgang mit der Zeichnung und lässt ein ganzes Universum aus Linien und Schraffuren entdecken.

■ Bis 16. Mai, Kunstmuseum Bonn (in Zusammenarbeit mit dem IFA)