Die Stimmen der Toten

STADTTHEATER Reisende Helden, reisende Zuschauer: Die „Odyssee Europa“ tourt am Wochenende zum zweiten Mal durch die Städte und Theater des Ruhrgebiets

Zwischen dem Essener und dem Dortmunder Odysseus liegen 36 Stunden und vier weitere Inszenierungen

VON SARAH HEPPEKAUSEN

Er trägt eine weiße Maske, der letzte Odysseus dieser langen Reise. Und klumpige schwarze Schuhe. Auf denen bewegt sich sein massiger Körper derart behäbig und plump, dass er notwendigerweise zu spät in seiner Heimat ankommen muss. Dort besetzen mittlerweile die Reformer sein Haus, buhlen um die Herrschaft Ithakas, Entwicklungsmaßnahmen und seine Frau, First Lady Penelope. Auch sie tragen Masken, aber ihre schlanken Gestalten bewegen sich leichtfüßig und ruhelos auf langen Stelzen durch den beengten Raum. Odysseus wird diese feinen Strategen niedermetzeln. Bei Christoph Ransmayr heißt er Städteverwüster und Veteran, unter der Regie von Michael Gruner im Schauspielhaus Dortmund wird er zum grobschlächtigen Untier.

Der erste Odysseus verhält sich nicht nur wie ein Krieger, er sieht auch aus wie einer. Kahlrasiert, in ärmellosem T-Shirt und tarnfarbener Hose blickt Andreas Grothgar versteinert ins Weite. Erst der Blutrausch wird seine Muskeln in Bewegung setzen. Der polnische Autor Grzegorz Jarzyna macht Odysseus zum Vatermörder, alle bisher abgeschlachteten Opfer reichten nicht aus, um den Heimkehrer aus seinem (Alb-)Traum zu erwecken.

Zwischen dem Essener und dem Dortmunder Odysseus liegen 36 Stunden, vier weitere Inszenierungen und eine Reise per Bus, Bahn, Schiff und Pedes durch sechs Ruhrgebietsstädte. Die „Odyssee Europa“ ist das große Theaterprojekt von Ruhr.2010 im Kulturhauptstadtjahr, aufwändig organisiert, außergewöhnlich durchgeführt. Sechs städtische Theater beauftragten europäische Autoren, Homers Odyssee dramatisch umzusetzen. Alle Uraufführungen können sich bereitwillige Zuschauer an einem Wochenende im Komplettpaket anschauen. Ein fürsorgliches Pauschalangebot der Architekten- und Künstlergruppe raumlaborberlin inklusive Übernachtung bei privaten Gastgebern, Stadtführungen von Einheimischen und üppigem Gastmahl macht so aus dem Theaterbesuch ein großformatiges Event.

Überforderung ist natürlich vorprogrammiert. Die lässt sich auch kaum mit den vorsorglich eingepackten Schlafbrillen wegschlummern. Es wäre auch schade um die spannenden Begegnungen mit den Weggefährten. Die sind auf der „Reise durch die Zwischenwelt“ erstaunlich gut gelaunt angesichts der deprimierenden Weltanalyse, die ihnen die Aufführungen präsentieren. Odysseus heute ist mal der Ölpest, mal Integrationsproblemen und mal der Spielsucht ausgesetzt. Und immer wieder seinem schuldbeladenen Gewissen. Es sind die Toten, die auf dieser Reise niemanden loslassen. Wie den traumatisierten Heimkehrer Odysseus verfolgen ihre Bilder auch die Zuschauer.

Gnadenlos und doch auch Hoffnungsträger sind sie, zumindest in Dortmund. Auf der Bühne verzerren sich die Stimmen der Toten zum kauzig-abgründigen Männerchor. Auf ihren Gesichtern sei manchmal ein Ausdruck von Unschuld zu entdecken, sagt Odysseus. Also sind die Toten die einzigen, die in der Inszenierung keine Pappmaché-Masken tragen. Gruners Puppenspiel bewegt sich zwar permanent an der Grenze zur Groteske, Ransmayrs unspektakulärem Stück kommt das aber zugute.

In Lisa Nielebocks Bochumer Inszenierung von Roland Schimmelpfennigs „Der elfte Gesang“ steigen die Toten aus dem Untergrund hervor. 30 bleiche Frauen atmen vorwurfsvoll gegen die Gleichgültigkeit des Grenzgängers Odysseus an, der bei Wolfgang Michael Verse wie „viele habe ich getötet, abgeschlachtet“ herausrotzt wie einen durchgekauten Kaugummi. Dieser Beiläufigkeit ist eine eigenartige Dringlichkeit inhärent und beschreibt ein durchaus aktuelles Phänomen: etwas wegzureden, das droht, das eigene Leben zu überrennen. Die salopp dahergeredeten Verse in der Hades-Box verleihen der konzentrierten Inszenierung mehr Brisanz als die weniger gelungene Umsetzung der heutigen Gestalten, die Schimmelpfennig seinem Stück beifügt.

Nach der letzten Inszenierung am Sonntagabend warten außerplanmäßige Busse auf die 400 Mitgereisten. Sturm „Xynthia“ hat gewütet, Züge fahren nicht mehr. Mit dem großartigen Enthusiasmus der Reiseveranstalter, Gastgeber und Weggefährten können die Inszenierungen in den Stadttheatern, zu denen noch die in Moers, Mülheim und Oberhausen kommen, leider nicht alle mithalten. Der spektakuläre Uraufführungs-Marathon bringt dennoch einen entscheidenden Mehrwert: Die sechs Ruhrgebiets-Theater erhalten an diesem Wochenende geballte Aufmerksamkeit und sorgen gemeinsam für eine Vielfalt, die das Projekt doch spannend macht.

■ Weitere Termine: 6./7. und 13./14. März, 2./3. April, 22./23. Mai; www.odyssee-europa.de