Falsche Geheimnisse

MÄRCHEN AUS DRESDEN Sebastian Baumgarten inszeniert „Der goldene Topf“ von E. T. A. Hoffmann am Staatsschauspiel Dresden. Träume wachsen ins Unermessliche und das Unheimliche mutiert zum Terror

Mit Begeisterung stürzen sich die Schauspieler in die Rollen der biedermeierlichen Karrieristen

Wie bindet man eine Stadt an ihr Theater? Indem man ihr selbst eine Rolle auf der Bühne gibt. In Dresden steht deshalb in der ersten Spielzeit des neuen Intendanten Wilfried Schulz das Märchen „Der Goldene Topf“ von E. T. A. Hoffmann auf dem Spielplan. Nicht nur, weil Hoffmann sein Märchen schrieb, als er in Dresden als Kapellmeister angestellt war (1813–1815), sondern mehr noch, weil die Glockenschläge der Dresdner Kirchturmuhren dem ständigen Wechsel zwischen der taghellen bürgerlichen Welt und dem nächtlichen Treiben von Hexen und Zauberern den Rhythmus geben. Sebastian Baumgarten, Opern- und Theaterregisseur mit großer Begabung für die Überblendung unterschiedlicher Welten, erhielt die Regie.

Anpassung im Biedermeier

Die Geschichte vom Studenten Anselmus, der aus einem Alltag, in dem ein Hofratsposten und die Liebe von Konrektor Paulmanns Tochter Veronika als das vernünftig Erstrebenswerte scheint, in eine fantastische Welt hinüberstolpert, in der zwei uralte Geschlechter (von Salamandern und Feuergeistern) seit Generationen gegeneinander kämpfen, ist gewiss nicht einfach auf die Bühne zu transportieren. Zwar ist das Muster der Parallelwelten, zu dessen Gründervätern man E. T. A. Hoffmann getrost zählen kann, inzwischen durch zahlreiche Roman- und Filmstoffe durchaus etabliert. Aber die biedermeierliche Normalität von Anselmus, der von eigenen Ungeschicklichkeiten ganz entsetzlich geplagt wird, ist erst mal weit von heute entfernt. Doch das kleingeistige Bürokratenmilieu in die Gegenwart zu transformieren und mit heutigen Figuren zu besetzen, die dick bebrillt, angepasst, aufstiegswillig und irgendwie zu feige sind, sich den eigenen Träumen zu stellen, gelingt der Inszenierung anfangs sehr gut.

Ja, sogar der feine Humor E. T. A. Hoffmanns bleibt erhalten, wenn Anselmus vor seinen Freunden lamentiert und sich selbst zur Karikatur verzerrt. Mit Begeisterung stürzen sich die Schauspieler in die Rollen der biedermeierlichen Karrieristen. Das wird noch gestützt von den Projektionen, die das ständige Punchtrinken der korrekten Anzugträger mit verzerrten und verwischten Bildern begleiten. Die Freundesgruppe, die sich an ihr bisschen Realität und Gemütlichkeit klammert, erscheint vor den großen Bildern immer kleiner. Die Träume, die sie ängstigen, wachsen.

Schon bei E. T. A. Hoffmann ist das Märchen in verschiedene Erzählstimmen aufgespalten, deren Perspektiven letztendlich auch nicht zur Deckung gebracht werden können. Teils nutzt Baumgarten davon längere Passagen, teils kann er auf ausführliche Dialogszenen zurückgreifen. Doch je öfter sich ein Türgriff in eine Hexe verwandelt und Töchter in Schlangengestalt auftreten, desto mehr hechelt die Inszenierung dem Plot hinterher und ist in langen Textpassagen mit Erklären beschäftigt.

Konkurrierende Welten

Dass es im „Goldenen Topf“ um eine Konkurrenz zwischen dem Vernünftigen und dem Unheimlichen, dem Realen und dem Imaginären geht, macht die Attraktivität des Stoffs für eine Gegenwart aus, in der der Verlust imaginären Geldes politisch und sozial große Auswirkungen zeigt. Schließlich ist Anselmus einer, der in den imaginären Welten verschüttgeht. „Ins Kristall bald dein Fall“, verflucht ihn eine Hexe gleich zu Beginn, und man sieht ihn auf der Bühne immer öfter hinter transparenten Flächen wie in ein gläsernes Gefängnis gesperrt. Baumgarten versucht diese Karte als Trumpf zu spielen: Philosophische Texte, etwa von Boris Groys, über Geister und Gespenster oder über Nachahmung und Simulation werden eingeschoben. Allein, es fehlt der Raum, auch ihr Verstehen entfalten zu können.

Zu viel zwingt die Inszenierung in das Märchen: Wo Veronika eine Wahrsagerin besucht, um in ihre Zukunft zu schauen, erscheint auf einem Bildschirm bald ein halbes Dokufeature über den Bombenkrieg auf Dresden, sozusagen als Blick in die Zukunft der Stadt von 1815 aus gesehen. Und das Fremde und Unzugängliche der geheimen Welt des Archivarius Lindhorst, der Anselmus arabische und andere Schriftzeichen zur Abschrift gibt, wird zu einer Begegnung mit terroristisch gesinntem Fundamentalismus. Anselmus läuft plötzlich laut tickend wie eine Uhr als Selbstmordattentäter über die Bühne. Das wirkt dann nicht nur wie eine oberflächliche Politisierung des Stoffes, sondern auch wie eine große Verengung des Interpretationsraums: das Nichtverstehbare, um dessen Akzeptanz als Teil des Lebens es E. T. A. Hoffmann doch auch ging, gleich mit bedrohlichem Extremismus in Beziehung zu setzen.

Durch solche Schachzüge verspielt die Inszenierung, was sie zunächst durch ihr musikalisches Timing an Leichtigkeit gewonnen hatte. Zunehmend schwerer schleppt sie nicht nur an der ohnehin verwirrenden Geschichte, sondern auch an dem Material, das die Aktualität von Hoffmann unter Beweis stellen soll. Und viel mehr als die Glockenschläge, die die eine Welt von der anderen trennen, bleiben schließlich auch nicht von der Stadt Dresden übrig.

KATRIN BETTINA MÜLLER